Weißrussland gilt als letzte Diktatur Europas, Todesstrafe inklusive. Wird es die nächste Ukraine oder bleibt es Russland treu?
Die Luxussuite ist der einzige Ort, an dem King Bobby noch manchmal wehmütig wird. Über das Doppelbett hat er ein Bild vom nächtlichen Paris tapeziert. Das nüchterne Design des Eiffelturms wirkt wie ein Regiefehler über den schummrigroten Schirmen der Nachttischlampen, über der verwaschenen Bettwäsche und dem klapprigen Bettgestell. Sein Blick wird weich, dann schüttelt er den Kopf. "Wenn du in Frankreich eine Frau auch nur angreifst, ruft die schon die Polizei." Wenn er über sein Lieblingsthema spricht, werden seine Gesten schnell fahrig, immer wieder streicht er sich über sein penibel getrimmtes Barthaar. Der knallrote Anzug und die Krawatte sitzen perfekt, er will später noch mit ein paar Mädchen um die Häuser ziehen. "Weißt du, Deutschland ist in der Weltpolitik ein Riese und Weißrussland ein Zwerg. Aber wenn es um die Frauen geht, ist es genau umgekehrt", sagt er in gebrochenem Russisch.
In Weißrussland ist der gebürtige Kenianer das geworden, was er schon immer sein wollte. Ein erfolgreicher Hotelier. Ein Frauenschwarm. Ein Draufgänger. So etwas wie ein Superheld. Seine Bediensteten nennen ihn respektvoll den "King", sie bewundern ihn für seinen Geschäftssinn. Und seinen Mut, es anders zu machen. Als er vor zwölf Jahren mit einem Austauschprogramm einer Pariser Uni nach Minsk kam, war er noch Student. Mit einem Kredit aus Frankreich stieg er in die Minsker Gastronomie ein. Inzwischen betreibt er vier Hostels in der weißrussischen Hauptstadt. An der Rezeption des King Hostel hängt ein Porträt jenes Mannes, dem er das alles zu verdanken hat: Alexander Lukaschenko, Präsident der Republik Weißrussland, liebevoll in Holz gerahmt. "Dass es bei uns schlecht sein soll, ist doch alles nur Propaganda des Westens. Lukaschenko sorgt für Sicherheit. Ohne ihn wäre das hier das reinste Chaos."
Weißrussland. Seine fragwürdigen 15 Minuten Ruhm erntet das Land immer dann, wenn Wahlen anstehen, wenn von Wahlfälschungen und inhaftierten Oppositionellen gesprochen wird. Wenig ist von dem Land selbst bekannt, das - ungefähr zweieinhalbmal so groß wie Österreich - zwischen Polen, der Ukraine, dem Baltikum und Russland liegt. Lukaschenko führt das Land mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern seit 20 Jahren mit eiserner Hand. Länger als Wladimir Putin und der ukrainische Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch zusammen. Es ist der letzte Staat Europas, der noch die Todesstrafe verhängt. Oppositionelle werden verprügelt, verschleppt und eingesperrt. EU-Sanktionen sind schon seit acht Jahren in Kraft, das Land ist in Richtung Westen isoliert. Das Etikett, mit dem Weißrussland von westlichen Medien immer wieder belegt wird, klingt nach Resignation: "die letzte Diktatur Europas". Der Westen, scheint es, hat abgeschlossen. Was ist dran an dem Mythos von der letzten Planwirtschaft, der letzten Diktatur auf dem Kontinent?
Wer Minsk das erste Mal besucht, ist geplättet von der Weite und Leere seiner Plätze. Die Straßen sind keine Verkehrswege, sie sind innerstädtische Autobahnen. Wie eine Aorta pumpt der achtspurige Boulevard der Unabhängigkeit, die zentrale Prachtstraße von Minsk, Blechkolonnen durch die Innenstadt. Die Straße ist gesäumt von ockerfarbenen Prachtbauten im Stil des Stalin-Klassizismus, wuchtigen Kriegsdenkmälern und menschenleeren Parks. Abends kommt der Kreislauf weitestgehend zum Erliegen, wenn die Minsker zurück in ihre Plattenbauwohnungen an den Rändern der Stadt strömen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, der Minsk fast vollkommen zerstörte, wurde die Stadt zu einem Experiment, zu einem architektonischen Exerzierfeld für die soziale Utopie, wie der Autor Artur Klinau die "Sonnenstadt der Träume" in einem Buch beschreibt. Eine in Wuchtbauten gegossene Utopie, auf dem Reißbrett geplant, eine Generalprobe für Moskau und andere sozialistische Städte.
Und die Sonnenstadt hat Zuwachs bekommen. Weißrussland richtet im Mai die Eishockey-Weltmeisterschaft aus. Es ist eine Art Sotschi für Alexander Lukaschenko. Im ganzen Land sind in den vergangenen Jahren Eishockeystadien aus dem Boden geschossen. Hinter vorgehaltener Hand lachen die Weißrussen über die zahlreichen "Eispaläste", futuristische Kästen aus Glas und Stahl in den weißrussischen Städten und in der Provinz. Scherzhaft wird auch über eine neue "Eiszeit" gesprochen. Sinnfälligstes Beispiel dafür ist die neu errichtete Tschischowka-Arena in Minsk, ein Ungetüm mit verspiegeltem Fensterglas und Plätzen für 10.000 Zuschauer. Um sie rechtzeitig für die WM fertigzustellen, sollen Studenten zur Zwangsarbeit verpflichtet worden sein.
Wenn es nach Lukaschenko geht, soll Eishockey in Weißrussland den Stellenwert von Football in den USA bekommen. Beobachter gehen davon aus, dass alle wichtigen Entscheidungen im inneren Machtzirkel bei einem Eishockeyspiel mit Lukaschenko getroffen werden. Allein, so richtig in die Gänge will der verordnete Nationalsport nicht kommen: Die teure Eishockeyausrüstung können sich viele Familien bei einem Durchschnittslohn von rund 400 Euro pro Monat schlichtweg nicht leisten - bei Preisen auf weitgehend westeuropäischem Niveau.
Aber wie groß ist der Rückhalt für Lukaschenko noch in der Bevölkerung? Brodelt es unter der Oberfläche der weißrussischen Gesellschaft? Ist der Osten Europas gerade dabei, eine Art "slawischen Frühling" zu erleben? In einem Eckhaus gegenüber dem Oktoberplatz, neben dem Amtssitz von Lukaschenko, sitzt Igor Busowski. Er hat den scharfen Blick eines Geheimdienstfunktionärs, hat nach eigenen Angaben aber nur Stationen in der Präsidentschaftskanzlei, dem Militär und der Eishockeyliga hinter sich. Heute ist Busowski Generalsekretär der Weißrussischen Republikanischen Jungen Union (BRSM), der Nachfolgeorganisation der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol.
Die BRSM gilt als Kaderschmiede für die Lukaschenko-Nomenklatura. Wenn die Angaben der BRSM stimmen, ist jeder dritte Jugendliche Mitglied des Lukaschenko-Nachwuchses. Das ist die Message, die Busowski verbreiten will: Stabilität statt Maidan. Wurst statt Revolution. Mit Freiwilligenarbeit verdienen sich Jugendliche bei der BRSM ihre Sporen für eine gut bezahlte Beamtenlaufbahn. "Als Bürger der Republik Weißrussland hat man nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten", sagt Busowski. Wohltätige Dienste für den Staat, die sogenannten "Subbotniki" (von "subbota", Samstag), die auch in der DDR gang und gäbe waren, stehen da noch immer an der Tagesordnung.
Back to USSR. Lukaschenko hat in Weißrussland die Uhr zurückgedreht. So hat er 1995 die Flagge der Weißrussischen Sowjetrepublik (BSSR) wieder eingeführt. Das Schwenken einer alternativen weiß-rot-weißen Flagge steht unter Strafe. Und der KGB, der weißrussische Geheimdienst, heißt auch heute noch so. Schweigende, schwarz gekleidete Männer, die unverhohlen Gespräche vom Nachbartisch belauschen, gehören in den Cafés von Minsk quasi zum Inventar. Experten beschreiben die Strategie als eine bizarre Mischung aus antiwestlicher Politik, Paranoia und Russland-Treue. Diese Treue lässt sich Lukaschenko auch teuer bezahlen: Schätzungen zufolge sind in den vergangenen zehn Jahren pro Kopf mehr russische Subventionen nach Weißrussland geflossen, als im selben Zeitraum das benachbarte Polen aus Brüssel erhielt. Und Polen ist immerhin der größte Nettoempfänger an EU-Geldern in absoluten Zahlen.