"Orson Welles ist ein Riese mit dem Gesicht eines Kindes. Er ist ein aktiver Müßiggänger, ein weiser Tor, ein einsamer Fels, umwogt von Menschlichkeit." Besser als mit den Worten Jean Cocteaus, eines anderen großen Kinomagiers des 20. Jahrhunderts, lassen sich Werk und Wirken jenes Mannes, der vor 100 Jahren in Wisconsin geboren wurde, kaum zusammenfassen: Orson Welles. Der erste wirkliche Multimediakünstler.
Dazu ein frühes cineastisches Ausnahmetalent ("Citizen Kane"), das die Grenzen der Filmgrammatik durch den Einsatz von Schärfentiefe und nonlinearem Erzählen unwiederbringlich verschob und so 1940 dem immer noch relativ jungen Medium Kino eine gehörige Ladung artistischer Innovationskraft in die Adern spritzte. Zuvor hatte er in den 1930ern bereits das puritanische Publikum schockiert und quasi im Alleingang das amerikanische Theater auf radikale Weise revolutioniert. In seiner legendären "Voodoo Macbeth"-Inszenierung besetzte der Jungspund jede Rolle mit Darstellern nicht amerikanischer Herkunft: nur ein Coup unter vielen in seiner zeitweise überirdischen, stets von Brüchen gezeichneten Karriere.
Nebenbei war er noch eloquenter Frauenverführer, der unter anderem mit Rita Hayworth verheiratet war, und blieb doch - zeit seines Lebens bis zu seinem Tod am 10. Oktober 1985 - ein monolithischer Einzelgänger, dessen vielfach unvollendetes Spätwerk bis heute Filmarchivare in aller Welt in Atem hält. Der lediglich bruchstückhaft erhaltene, nie zu Ende gedrehte "The Other Side Of The Wind" aus dem Jahr 1975 konnte beispielsweise durch jahrelange Rechtsstreitigkeiten nur wenigen Auserwählten gezeigt werden. Gut 42 Minuten davon werden nun in der großen Retrospektive des Münchner Filmmuseums, das den filmischen Nachlass Welles' seit 1993 mit großer Verve pflegt und restauriert, zu sehen sein: eine kleine Sensation.
Der Regiealtmeister Peter Bogdanovich spielt in diesem ebenso wilden wie mutigen Bilderreigen neben Lilli Palmer und Edmond O'Brien als Schauspieler mit - die Rolle des persönlichen Assistenten eines gefallenen Starregisseurs, verkörpert vom alten Haudegen John Huston, die Bogdanovich auch im wirklichen Leben an der Seite von Welles mehr und mehr einnahm. Was hier echt, was bloß gekünstelt ist, bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen: ein frech-dreister Film im Film ist dadurch herausgekommen, ohne Ende, ohne Anfang. Nur Blitzlichter überall. Typisch für den großen Welles, der sich selbst im hohen Alter noch brennend für neue Video-, Splitscreen-, Montage- und Bildtechniken interessierte.
Nur das liebe Geld wollte ihm über Jahrzehnte keiner mehr zuschustern, weder die US-Studios noch europäische Independentproduzenten - ein Trauerspiel der späten Welles'schen Vita. Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde Carol Reeds Klassiker der schwarzen Serie "Der dritte Mann" in einer sensationellen 4K-Version wieder aufgeführt, die in Kürze bei Arthaus erscheint. Das hätte Orson Welles, der die Titelrolle des Harry Lime spielte, sicher erfreut.
Nicht nur von der Statur her überragte Welles seine Filmkollegen: auch in puncto Mut und Entschlossenheit. Dabei vergisst man gerne, was Welles obendrein für ein begnadeter Schauspieler ("Die Lady von Shanghai"), innovativer Radiomacher ("Krieg der Welten"), fesselnder Geschichtenerzähler ("Moby Dick") und genialer Shakespeare-Rezitator ("Der Kaufmann von Venedig") war. Kurzum: ein Tausendsassa von scheinbar unbändiger Energie.
Am 10. Oktober 1985 starb Welles in Los Angeles. Zusammengebrochen an seiner Schreibmaschine, fand ihn seine späte Muse Oja Kodar. Es sind die unzähligen Facetten des US-amerikanischen Wunderkinds, die Filmwissenschaftler wie Kinogänger an Orson Welles ohne Unterlass faszinieren. Denn einen größeren Zampano als ihn hat es in der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht gegeben. Also: Zeit nehmen für den Zauberer im Münchner "Xanadu" am Sankt-Jakobs-Platz.
FILMRETROSPEKTIVE ORSON WELLES
Filmmuseum München | St.-Jakobs-Platz 1 bis 2. August
Bild: Filmmuseum
Original