VON SIMON HAUCK
Eine Ausnahmequalität mussten ihm sogar seine härtesten Gegner zugestehen: Er war der Produktivste von allen. Als bedeutendster deutscher Nachkriegsavantgardist mit internationaler Geltung und als leibhaftige Verkörperung des Autorenfilmers par excellence, überstrahlte er sie alle: Ob Kluge, Herzog, Wenders oder Reitz. Kein anderer deutscher Filmemacher der letzten fünfzig Jahre wurde dermaßen oft zitiert, verrissen, hochgejubelt und gleichsam verdammt. Denn am heutigen "Mythos RWF" schieden sich schon seit seinem urplötzlichen Erscheinen auf der Kinoleinwand Ende der 60er Jahre die Geister.
Seinen 70. Geburtstag hätte er dieses Jahr gefeiert, wenn ihn nicht 1982, in der Nacht zum Fronleichnamstag, ein kruder Mix aus Kokain, Alkohol, Schlaftabletten und akuten Herzattacken aus der Clemensstraße unerwartet ins Jenseits befördert hätte. Vielleicht hätte er für dieses sicherlich rauschende Fest gleich die gesamte Deutsche Eiche angemietet, sein lebenslanges Stammlokal und Quasiwohnzimmer, vis-à-vis seiner früheren Wohnung in der Reichenbachstraße.
Feiern, drehen, schreiben, kurz: leben! Rainer Werner Fassbinder war im wahrsten Sinne des Wortes ein unruhiger Geist, ein streitbarer Zeitgenosse, ein radikaler Erneuerer und ein ebenso mutiger Ästhet, der scheinbar unaufhaltsam einfach sein Ding machte: Ohne Rücksicht auf Verluste, versteht sich bei ihm - als absolutem Autodidakten - erst recht wie von selbst, sogar wenn ihm von Produktions- oder Senderseite während des 13-jährigen Schaffensrausches immer wieder böse hineingegrätscht wurde: Der WDR hatte ihm zum Beispiel 1972 - trotz einer Einschaltquote von 25 Millionen Zuschauern - verboten, drei weitere Teile seiner analytisch-heiteren Familiensaga "Acht Stunden sind kein Tag" zu drehen, obwohl die Folgen bereits geschrieben und vertraglich fixiert waren. Andere Lebensprojekte wie "Soll und Haben" nach Gustav Freytag, Sigmund Freuds "Der Mann Moses" oder die Bearbeitung von Pitigrillis Romanvorlage "Kokain" mit Romy Schneider in der Hauptrolle blieben leider bis zum Schluss im Giftschrank der Anstalten wie in der geistigen Schublade des manisch-produktiven Regieberserkers.
Fassbinder, dieser schier unaufhaltsame Himmelsstürmer, wurde - wie so oft im deutschen Film - im Ausland früh verehrt und in der Heimat ein Leben lang mit einem gewissen Hautgout rezipiert: Ein "German Wunderkind", wie das US-Magazin "Time" ihn nannte? Ja, aber ein dreckiges! Weil ein freches, ein permanent quengelndes. Morddrohungen waren die Folge aufgrund der geplanten Premiere seines Theaterstückes "Die Stadt, der Müll und der Tod". Das moralische Damoklesschwert des Antisemitismus hing fortan über seinem zauseligen Haupt, das bis zum Lebensende fast nur noch mit diversen Hüten bedeckt wurde.
Zum Schutz - oder auch aus Trotz? Auf jeden Fall legte sich der gebürtige Bad Wörishofener eine ganz eigene Montur zu: schwarze Sonnenbrille, angeranzte Lederhose, übergroße Stiefel und eine wilde Rockerjacke: quasi den Fassbinder-Kampfanzug, wodurch er sich erst recht im kulturellen Gedächtnis als Ikone einbrannte. Denn der öffentliche Gegenwind blies ihm sogar noch auf dem künstlerischen Höhepunkt scharf entgegen: Nach der legendär dunklen Erstausstrahlung seines Opus magnum "Berlin Alexanderplatz", obwohl eine echte "Jahrhundertproduktion" (Susan Sontag), hagelte es erneut wütende Protestbriefe. Offen sinnierte er daraufhin in einem "SPIEGEL"-Interview über Auswanderung ("Lieber Straßenkehrer in Mexiko sein") und prangerte ein weiteres Mal die wahnsinnige "Provinzialität" der BRD an.
Nein, er machte es wirklich keinem leicht: Seiner legendären Entourage nicht, seinen Redakteuren ebenso wenig wie seinen zahlreichen Lebenspartnern - und erst recht nicht sich selbst: "Das Leben ist nicht immer lustig", eigentlich ein Zitat aus Godards "Vivre sa vie" (1962), sollte sein eigenes Credo werden: Im Leben wie in der Arbeit. So eckte der Filmgigant, der heute in Pariser oder New Yorker Retrospektiven begeistert wiederentdeckt wird, auch noch lange Jahre nach seinem Tod an. Gerade auch in seiner ihm durch Hassliebe verbundenen Heimatstadt München, die sich 1992, zum zehnten Todestag, beispielsweise nur zu einer losen Veranstaltungsreihe unter dem Namen "Ein Genie stirbt nie: Reden, Lesungen, 35 Filme" aufraffen konnte, deren Initiative überwiegend von Weggefährten des Enfant terrible ausging.
Der bereits in den späten 1980ern diskutierten Straßenumbenennung der Reichenbach- in Rainer-Werner-Fassbinder-Straße wurde bis heute nicht zugestimmt. Fast schon zum Hohn heißt seit 2004 ein anonymes Teerteppichfleckerl im trostlos-kalten Neubaugebiet namens Arnulfpark offiziell "Rainer-Werner-Fassbinder-Platz". Der prominente Name des lange ungeliebten "Wunderkinds" mitten in einem seelenlosen Investorengebiet? Oh weh, da hätt's aber gekracht, wenn der Geehrte das selbst noch erlebt hätte. Wenigstens gibt es seit 2006 eine "Rainer-Werner-Fassbinder- Fachoberschule für Sozialwesen", eine Entscheidung, die dem notorischen Schulabbrecher und Kämpfer für soziale Minderheiten sicherlich schon besser gefallen hätte, ganz im Sinne seiner Lieblingsautoren Marieluise Fleißer und Ödön von Horváth.
Zum diesjährigen Gedenken an den großen Sohn der Stadt ist es daher umso erfreulicher, dass sich zahlreiche städtische Institutionen der gemeinsamen Idee von Xenia Bühler und Andrea Funk angeschlossen haben: "Fassbindertage" nennt sich nun dieser wirklich bunte Veranstaltungsreigen, der vom ersten Mai bis Anfang Juni sehr viele, zum Teil auch sehr unterschiedliche Programmpunkte zu einer abwechslungsreichen Reihe gebündelt hat: Dort können Interessierte etwa in der Deutschen Eiche den "Satansbraten" leibhaftig verspeisen, bei nächtlichen Trambahnfahrten die Lebensorte des Filmgenies kennenlernen, den Liedtexten des Duos Fassbinder/Raaben lauschen und wahrscheinlich auch den ein oder anderen Cuba Libre zu sich nehmen. Was der Meister wohl selbst dazu gesagt hätte? Egal. Zum Glück ist der erst gar nicht dabei: Denn als Münchner Rentner konnte man sich RWF eh nie wirklich vorstellen, oder? ||
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