Man kann mit Raphael Gielgen, 51, darüber reden, wie man sich das virtuelle Büro einrichtet, über das Büro als Bühne, als Campus oder als Atelier. Auch darüber, was eigentlich verloren geht, wenn uns die zufällige Begegnung fehlt. Und überhaupt, wie sehen unsere Arbeitsplätze in der Zukunft aus? Was wird aus den Büros und Bürotürmen? Als "Future-of-Work-Trendscout" für den Möbelhersteller Vitra reist Gielgen normalerweise rund um die Welt, besucht Hunderte Unternehmen, 180 Tage im Jahr ist er unterwegs. Jetzt hat er sich ein eigenes Webcast-Studio zu Hause eingerichtet. Von hier aus ist er nun mit gutem Sound, gutem Licht und guter Kamera im Austausch mit seinem globalen Netzwerk, von hier aus blickt er auf die Welt.
ZEIT Spezial: Herr Gielgen, wie gefällt Ihnen mein virtuelles Büro?
Raphael Gielgen: Na ja, weiße Wand, weißer Schrank.
ZEIT Spezial: Also, nein?
Gielgen: Es sieht real aus, also sehr zweckmäßig. Viele Kollegen haben den gleichen Hintergrund, immer dieselbe weiße Wand. Das ist neutral, aber eben auch langweilig.
ZEIT Spezial: Haben Sie ein paar Tipps, wie man sich das virtuelle Büro schöner einrichtet?
Gielgen: Ein Bild an der Wand ist immer schön. Den Kollegen oder Kunden zu fragen, was hängt da für ein Bild, ist eine gute Gelegenheit, mehr über den Menschen zu erfahren, wenn man schon räumlich getrennt voneinander ist. Aber bitte benutzen Sie bloß nicht einen dieser gruseligen virtuellen Star Wars-Hintergründe, die "Brücke des Todessterns" oder das "Cockpit des Millennium Falken", für ihre Video-Calls! Dann doch lieber die weiße Wand oder das beliebte Bücherregal. Ein Grundmaß für ein work from home toolkit ist natürlich gutes Licht, eine gute Kamera und gute Kopfhörer.
"Wir sind auf über 700 Remote-Work-Tools gestoßen." Raphael Gielgen, 51, Trendscout
ZEIT Spezial: Es gibt aktuell zahlreiche Unternehmen, die nichts anderes tun, als ein riesiges Ökosystem für virtuelle Arbeit zu schaffen. Von Virtual-Reality-Holodecks für gemeinsames Arbeiten in realitätsgetreuer, virtueller Umgebung über kooperative Designplattformen. Was brauche ich noch?
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Gielgen: Ich habe gerade mit einer meiner Studentinnen eine Studie dazu gemacht. Wir sind auf über 700 Remote-Work-Tools gestoßen. Siebenhundert! Danach haben wir aufgehört zu zählen. Es gibt zu jeder Aktivität irgendein Tool, egal ob das Messaging ist oder Productivity Control oder Workflow Documentation. Das Videokonferenz-Tool Zoom hatte zwischenzeitlich ein Umsatzplus von 355 Prozent! Selbst Randprodukte konnten rasanten Zuwachs erreichen. Stellen Sie sich vor, früher hatten Sie eine Werkzeugkiste, jetzt haben Sie einen Werkzeugschrank. Und wenn Sie ihn öffnen, fällt ihnen alles entgegen.
ZEIT Spezial: Und wonach sortiere ich dann?
Gielgen: Schauen Sie, nach dem gemeinsamem Zwangsexperiment ist doch das Positive, dass wir unsere Vorlieben neu entdecken, und darüber fangen wir an, unser Verhalten zu Hause und zur Arbeit zu verändern. Von Monat zu Monat werden wir uns wahrscheinlich mit immer wieder neuen Tools konfrontiert sehen, wir werden sie entdecken, und wir werden feststellen, dieses ist gut, dieses geht in der Anwendung schwer. Und in weniger als zwei Jahren werden wir sie benutzen wie die Apps auf unseren Smartphones.
"Was, wenn Innovation zur Routine und ein essenzieller Teil des täglichen Arbeitslebens wird?" Raphael Gielgen, 51, Trendscout
ZEIT Spezial: Werden unsere Büros jetzt verwaisen?
Gielgen: Die Eine-Millionen-Euro-Frage war ja: Warum soll ich überhaupt zurück ins Büro kommen? Als ich neulich mit einem großen Real-Estate-Unternehmer in den USA sprach, sagte der, momentan gäbe es für ihn nur zwei Arten von Büros: Büros, in die Mitarbeiter zurückkehren wollen, und Büros, in die sie nicht zurückkehren wollen. Die Firmen merken jetzt, dass es neben Produktivität, Rationalität und Effizienz etwas gibt, das eben nicht in der Gewinn- und Verlustrechnung steht, und wir müssen dem Rechnung tragen.
ZEIT Spezial: Und zwar?
Gielgen: Die unsichtbare soziale Ordnung einer jeden Organisation ist doch die Unternehmenskultur, das hatte kaum jemand auf dem Radar - und die wurde nun freigelegt. Plötzlich stellen wir fest, so ein leeres Büro fühlt sich ein bisschen doof an, und die vielen Termine auf Zoom oder Microsoft Teams helfen auch nicht unbedingt, um ins Tun zu kommen, dafür fehlt uns tatsächlich die zufällige Begegnung.
"Diese kleinen Interaktionen, wenige Gesten, ein kurzer Dialog, schaffen Nähe." Raphael Gielgen, 51, Trendscout
ZEIT Spezial: Warum hilft ausgerechnet die zufällige Begegnung, ob im Fahrstuhl, im Treppenhaus oder vor dem Kaffeeautomaten, um ins Tun zu kommen?
Gielgen: Diese kleinen Interaktionen, wenige Gesten, ein kurzer Dialog, ob privat oder beruflich, signalisieren Zugehörigkeit, und die schafft Nähe. Sie brauchen diese Nähe, um in der Zusammenarbeit mit einem Menschen einen Unterschied zu machen. Der Soziologe Richard Sennett hat schon vor 40 Jahren eine Studie geschrieben, worin er fragte, ob Menschen überhaupt ausschließlich von zu Hause aus agieren können, und sagte, jetzt mal in meiner Sprache zusammenfasst: Der Mensch wird zu Hause gaga.