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Ferraris Fahrlehrer exklusiv: Wo Mick schon besser ist als Michael

Ferraris Fahrercoach Jock Clear (57) bereitet junge Piloten wie Mick Schumacher auf die Formel 1 vor. Der Brite arbeitete schon mit Schumi.

SPORT BILD traf ihn zum Exklusivinterview.

SPORT BILD: Herr Clear, Sie sind der einzige Fahrercoach der Formel 1 und fördern den Motorsportnachwuchs in der Ferrari Driver Academy, machen dort Fahrer fit für die Formel 1 und die Scuderia Ferrari. Wie sieht Ihre Arbeit mit den Fahrern genau aus?

Jock Clear: „Mein Job ähnelt mehr dem eines Sport-Coaches generell wie im Golf oder Tennis und weniger dem eines Fahrlehrers. Es geht nicht direkt darum, zu erklären, wie man ein Formel-1-Auto fährt. Ich selbst bin nie so ein Auto gefahren, wäre also völlig unqualifiziert dafür. Aber die Formel 1 ist ein sehr technischer Sport. 99 Prozent dessen, was an der Strecke passiert, ist technisch und aufs Auto bezogen. Und dann haben wir den Fahrer als Nahtstelle, also einen menschlichen Aspekt. Um aus beiden Bausteinen das Beste herauszuholen, ist es mein Job, in Fahrersprache zu übersetzen, was wir in der Entwicklung des Autos machen, also wie wir es von Strecke zu Strecke und Session zu Session anpassen. Es geht darum, dass der Fahrer weiß, was mit seinem Auto passiert, aber nicht ganz so technisch."

Wie genau erreichen Sie das?

„Wir zeigen dem Fahrer keine Grafiken oder Daten, sondern erklären ihm, was es für ihn konkret bedeutet. Unterschiedliche Strecken verlangen unterschiedliche Dinge vom Fahrer. Ebenfalls Teil meines Jobs ist es, den Ingenieuren im Umfeld der Fahrer zu erklären, was die Fahrer brauchen. Man kann ihnen nicht die gleichen Unterlagen geben, wie man sie als Student der Ingenieurswissenschaften kennt. Es ist nicht ihre Sprache. Und solange man nicht dieselbe Sprache spricht, redet man zwar, aber kommuniziert nicht."

Warum ist diese Arbeit mit dem Nachwuchs so wichtig?

„Wir wollen Fahrer auf die Erwartungen an ihn in der Formel 1 vorbereiten. Das Hauptaugenmerk in der Ferrari Driver Academy liegt darauf, junge Fahrer für die Scuderia Ferrari vorzubereiten. Wir geben den Hintergrund in Hinblick auf Technik, aber auch auf Verhalten, Zeitmanagement, den Umgang mit Erwartungen und die emotionale Ebene, sodass sie auf die Formel 1 vorbereitet sind. Von den Schritten von Rennserie zu Rennserie ist der in die Formel 1 der größte. Öffentlichkeit, Druck, Erwartungen, auch auf Social Media, sind dort am größten. Das alles hat Einfluss auf das Verhalten im Auto. Gerade auf die menschlichen Aspekte wurde in der Vergangenheit nicht so viel Wert gelegt."

Die Arbeit ist also eher theoretisch und gesprächsbasiert und weniger eine praktische, vielleicht technische Arbeit am Auto?

„Viele Dinge sind natürlich sehr datenlastig. Wenn im Auto arbeiten, geht es mehr um Daten. Jeder arbeitet an seinem Laptop oder Gerät. Fahrer brauchen aber nicht dieses detaillierte technische Verständnis. Sie blicken im Auto nicht auf Daten, sondern auf die Straße, auf ihr Lenkrad und den Zustand der Reifen. Um beide Seiten, die technische und die des Fahrers, zusammenzubringen, braucht es Gespräche. Fahrer brauchen ein Grundverständnis der Daten. Die Guten werden anfangen, die Daten zu interpretieren und zu erkennen, was mit dem Auto passiert. Die Arbeit ist also gesprächslastig, wir erklären den Fahrern viel, was sie in den Daten erkennen und was es für sie bedeutet. Ich denke, einer der Gründe, warum ich in die Rolle gewechselt bin, ist, weil ich Erfahrung mit einer Menge guter Fahrer habe. Ich habe mit sieben Weltmeistern gearbeitet. Dadurch erkenne ich, was sehr besondere Fahrer ausmacht."

Und was ist das?

„Alle auf dem Level, auf dem wir arbeiten, sind sehr gute Fahrer. Wir müssen ihnen nicht erklären, wie man eine Kurve nimmt oder die Bremse drückt. Denn wer in die Ferrari Driver Academy kommt, ist schon sehr, sehr gut in dem, was er tut. Um es vielleicht mit dem Fußball zu vergleichen: Niemand bringt Ronaldo bei, wie er den Ball treten muss. Aber viele Leute bringen ihm das Spiel bei: Angriffs- und Verteidigungsmuster, wo er sich bewegen muss, um mit den anderen Spielern zusammenzuarbeiten."

Und ein Fahrer?

„Ein Fahrer muss sich in ein sehr, sehr großes Team einarbeiten. Ich helfe ihm dabei, zu lernen, wohin er gehen muss, um den Ball zu bekommen, und zum wem er den Ball dann passen soll, um beim Fußball zu bleiben. Wie in den meisten Sportarten arbeiten wir nicht am Talent an sich, denn die Basis ist schon da. Wir wissen zum Beispiel, dass Mick Schumacher und Callum Ilott sehr gute Fahrer sind. Aber den Unterschied zwischen diesen beiden und Lewis Hamilton, Sebastian Vettel oder Charles Leclerc macht aus, dass die besonders Guten wissen, wie sie darauf aufbauen und ihre Fähigkeiten am besten ins Team und ins Auto bringen."

Wer ist der beste Fahrer, mit dem Sie je gearbeitet haben?

„Michael (Schumacher, d.Red.) war außergewöhnlich gut in der Arbeit mit dem Team. Er verstand es, Leute zu motivieren. Motorsport kann wie ein recht einsamer Sport wirken, weil nur einer im Auto sitzt. Aber es ist eigentlich ein Mannschaftssport. Die Fahrer müssen das lernen: Dass es, selbst in den einsamsten Momenten auf der Strecke, ein Mannschaftssport ist. Und genau das hat Michael verstanden. Er wusste, wie man mit den Menschen zusammenarbeitet, wie er die Leute für sich gewinnt und alle hinter der Sache vereint. So gewinnt man. Und das hat Michael in Gänze verstanden. In jedem Aspekt dessen, was er getan hat, hat er die Kontrolle über die Situation übernommen. Rennfahrer sein ist mehr als nur einfach am Samstag oder Sonntag das Auto zu fahren... Und dann ist da natürlich noch Lewis."

Lewis Hamilton, mit dem Sie von 2013 bis 2014 zusammengearbeitet haben...

„Lewis war in dieser Hinsicht weniger ein Naturtalent. Darin, wie er das Auto kontrolliert, war er vielleicht umso mehr Naturtalent, vielleicht besser als Michael. Aber Lewis hat die Teamdynamik nicht so sehr von Natur aus verstanden. Aber er lernt sehr schnell. Und genau das erkennen wir auch in Charles (Leclerc, d.Red.).

...den Sie gecoacht haben.

„Seine Entwicklung in den letzten zwei Jahren bei Ferrari war enorm. Und das ist toll für die jungen Fahrer. Michael und Lewis sind ja schon Ikonen. Da reden wir über die Besten überhaupt. Aber die jungen Fahrer können sich in Charles wiederfinden. Er war in der Ferrari Driver Academy, war Ferrari Junior und ist jetzt zu einem der Besten im Fahrerfeld herangewachsen. Unsere jungen Fahrer sehen das und finden sich darin wieder, weil sie auch diesen Weg gehen. Er ist ein gutes Vorbild."

Sie sagten, dass Michael Schumacher besonders gut mit dem Team zusammenarbeitet. Man bekommt den Eindruck, dass Mick das genauso machen möchte, sehr viel Wert auf ein gutes Verhältnis mit dem Team legt. Sehen Sie das auch in ihm?

„Absolut. Man sagt ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Es ist überhaupt keine Überraschung, dass Mick diese Qualitäten hat. Es sind Michaels Wesenszüge gewesen und er ist in diesem Umfeld groß geworden, auch wenn er damals noch nicht alt genug war, um das in Michaels Weltmeisterjahren konkret erlebt zu haben. Aber das ganze Familienumfeld wird diese Fähigkeiten an Mick weitergegeben haben. Und das bringt er jetzt zu Haas mit. Seine Dynamik im Team ist sehr positiv. Und die Methodik, mit der er arbeitet, ist fast noch besser als die von Michael, denn er ist von Natur aus ein ruhigerer Typ. Es ist für mich und viele bei Ferrari faszinierend, erst mit Michael und jetzt mit Mick zu arbeiten und ihre Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zu sehen. Am Ende des Tages ist jeder unterschiedlich. Es gibt nicht nur den einen Weg, ein Champion zu sein."

Vergrößern Formel-1-Ikone Michael Schumacher

Wie meinen Sie das?

„Michael und Lewis sind so ziemlich jeweils die Extreme. Und irgendwo in Richtung von Michaels Seite ist Sebastian (Vettel, d.Red.). Und irgendwo mehr in Richtung von Lewis' Seite ist Kimi (Räikkönen, d.Red.). Das sind alles sehr unterschiedliche Charaktere und jeder muss seinen eigenen Weg finden. Aber einiges haben diese Wege gemein: Sie müssen den Aspekt der Teamarbeit erkennen und merken, dass sie die Leute mitnehmen müssen und es nicht als ihre Solo-Mission sehen."

Welchen Rat haben Sie Mick vielleicht schon gegeben oder würden Sie ihm geben, woran er noch arbeiten kann?

„Es geht mehr um die kleinen Details, wie er mit bestimmten Situationen umgeht und um die generelle Entwicklung. Es sind kleine Schritte. Früher sind Fahrer mit 10 000 oder 20 000 gefahrenen Test-Kilometern in die Formel 1 gekommen. Diese Zeiten sind vorbei. Dafür ist nicht mehr die Zeit. Wenn man also von den Nachwuchsfahrern heutzutage verlangt, dass sie direkt vorne mitfahren, ist das zu viel. Sie müssen die Rennen als Training nutzen. Mick ist bei Haas gerade in der Situation, dass er nicht so im Rampenlicht steht, was ihm liegt. Er hat relativ wenig Druck. Er muss dort erkennen, ob er jedes Wochenende besser wird und die kleinen Aspekte aus dem einen zum nächsten Rennen hin verbessern kann. Diese winzigen Schritte müssen so erkennbar und so greifbar wie möglich sein. Und wir müssen ehrlich sein und schauen: Ist da eine Entwicklung? Die Rookie-Zeit ist schnell vorbei. Dann ist man vielleicht in einem neuen Auto und die Leute erwarten plötzlich viel von einem. Man muss da sehr unvoreingenommen und ehrlich mit sich selbst sein."

Wie meistert Mick das?

„Darin ist Mick sehr gut. Er hat in diesem Jahr schon ein paar Fehler gemacht: Seinen Dreher in Bahrain. Und als er in Imola gegen die Wand gefahren ist. Aber er hat sich davon gut erholt und nimmt etwas Positives daraus mit. Es waren ein paar harte Lektionen für ihn und in der Saison war bislang auch viel los. Aber er hat sehr viel daraus mitgenommen. Ich bin zuversichtlich, dass er darüber hinweg ist und sich sagt: Nächstes Mal verstehe ich die Situation besser und mache es besser. Und das ist es, wonach wir bei jungen Fahrern suchen. Sie werden Fehler machen. Es ist unglaublich schwer, gut in diesem Sport zu sein. Die Fans und sogar wir Ingenieure vergessen das manchmal, weil jeder um uns herum einfach unglaublich gut ist, wenn man auf diesem Level angekommen ist. Wenn man seinen Nebenmann schlagen will, muss man sehr, sehr gut in all diesen Dingen sein. Und um dort hinzukommen, muss man diese winzigen Schritte gehen und jede Möglichkeit nutzen, um zu lernen. Das hat Charles in den letzten Jahren außergewöhnlich gut gemacht. Und Mick macht auch einen solchen Fortschritt."

Haben die beiden das Zeug, vielleicht eines Tages auch die große Sieben zu holen?

„Es ist unmöglich zu sagen, ob ein Fahrer jemals das Niveau von Michael oder Lewis erreichen wird und sieben Weltmeistertitel holt. Das hat viel mit den richtigen Entscheidungen und Umständen zu tun. Wären sie beide in der Lage, Weltmeister zu werden? Charles sicher. Es gibt keinen Zweifel daran, dass er Weltmeister-Material ist. Er funktioniert sehr gut unter Druck und ist sehr fokussiert und kann gut mit seinen Gefühlen umgehen und kommt nach einer schlechten Leistung stark zurück. All diese Attribute, eine Art Resilienz, erlauben es einem, gut genug zu sein, um in einer Weltmeisterschaft liefern zu können."

Und Mick?

„Was Mick angeht, ist es noch zu früh zu sagen, ob er all die Qualitäten hat, um Weltmeister zu werden. Bislang haben wir noch nichts entdeckt, das ihm fehlen würde. Es ist noch ein weiter Weg, aber er geht definitiv in die richtige Richtung. Wir hoffen, dass er sich weiter verbessert. Er macht alles, was wir von ihm verlangen und er erzielt tolle Ergebnisse. Mehr können wir nicht verlangen. Aber nur die Zeit wird zeigen, ob er unter dem Druck, wenn er vorne mitfährt und wenn er die Chance auf eine Pole Position hat, auch liefern kann. Es ist ein ganz anderes Szenario als jetzt, wo er in einem nicht wettbewerbsfähigen Auto gegen seinen Teamkollegen kämpft."

Dieser Druck und die hohen Erwartungen sind ein Thema für alle Fahrer, aber sicher besonders für Mick, weil er diesen berühmten Nachnamen hat. Was kann ihm helfen, mit diesem Druck umzugehen?

„Welchen Druck das wirklich mit sich bringt, kann kaum jemand von uns ahnen - und ob der Druck von außen oder von innen kommt. Ob Mick das Gefühl hat, performen zu müssen, weil er der Sohn seines Vaters ist. Oder ob der Druck von allen um ihn herum kommt, die sagen: ‚Du bist ein Schumacher, also musst du performen. Es wäre enttäuschend, wenn dein Vater nicht denkt, dass du gut bist oder nicht stolz auf dich ist, weil du keine Titel gewonnen hast.' Wenn Leute sowas sagen, kommt Mick damit zurecht. Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist. Man darf nämlich nicht vergessen, dass er jeden Tag seines Lebens als Sohn von Michael Schumacher verbracht hat. Das ist kein Problem für ihn. Es hängt vielmehr davon ab, ob er diesen Druck auf sich selbst ausübt."

Wie genau meinen Sie das?

„Wenn er selbst das Gefühl hätte, dass sein Vater nicht stolz auf ihn wäre, wenn er keine Titel holt, könnte das schadhaft sein. Wir sprechen darüber mit ihm, aber es ist seine Sache, damit zurechtzukommen. Am Ende ist er aber ein sehr ausgeglichener junger Mann. Ich sage oft, dass Michael und Corinna stolz auf ihn sein können, weil er ein sehr, sehr netter Junge ist, nicht nur als Rennfahrer, sondern als Mensch. Das kommt ihm zugute. Das ist genau die Eigenschaft, die ihn durch den Schumacher-Druck durchbringen wird. Noch mehr als seine Fähigkeiten im Auto. Er ist sehr ausgeglichen und gefasst. Und das muss er in der Situation mit dem Druck von vielen Seiten sein."

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