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Feature

Die Würfel sind gefallen

Es ist mitten in der Nacht. Die Wüste schläft. Plötzlich: ein Knall. Rufe in einer fremdländischen Sprache stören die wieder einkehrende Stille. Einer ist verletzt, liegt blutend am Boden. Ein anderer hält auf dem Dach Ausschau nach weiteren Eindringlingen. Ein Feuergefecht entbrennt, Granaten explodieren und Schreie von Verletzten erfüllen das Lager. Die Eindringlinge, Rebellen die eine Befreiungsaktion gestartet haben, bahnen sich ihren Weg zum Anführer des Stützpunkts. Dieser hat sich mit einigen Söldnern in einer Kantine verschanzt, bereit sein Leben zu verteidigen.


Um 13.45 Uhr klingelt es bei Sander an der Tür. Sander ist 26 Jahre alt, schlank und groß gewachsen. Er trägt eine Brille, hat einen Vollbart, braune, kurze Haare und um seinen Hals hat er ein rotes Halstuch gewickelt. Auf seinem T-shirt bekennt er sich klar zu den Rebellen aus dem Star Wars Universum. Dort steht, neben einer Abbildung des ikonischen Chewbaccas in großen Buchstaben „Viva la Revolucion!“. In seiner Zweizimmer Wohnung in der Karlsruher Innenstadt treffen sich die Jungs.  Die Jungs, das sind Sander, Sebastian, Hannes und Lukas. Sie treffen sich nicht für einen Filmeabend, oder um an der Konsole zu zocken. Sie treffen sich, um ein Pen and Paper Rollenspiel zu spielen. Ein Abenteuer, das mit Hilfe von Stift, Papier und Fantasie zum Leben erweckt wird. Nachdem alle eingetroffen sind, packen sie Schreibblöcke, Stifte und Würfel aus. Der Wohnzimmertisch gleicht jetzt dem Arbeitsplatz eines zerzausten Schriftstellers. Auf ihm liegen verschiedene aufgeschlagene Bücher, Zettel und Schreibutensilien. Lukas, 22, schnappt sich eines der Bücher und blättert zielstrebig darin umher. Er ist schlank und hat einen dunkelblauen Pullover an, er hat braune, kurze Haare und trägt eine Brille. Sein Blick schweift konzentriert von Seite zu Seite. Er überfliegt Tabellen, liest Beschreibungen und schaut sich Bilder an. Er hält inne, greift zu einem Stift und notiert sich etwas auf einem Blatt. Mittlerweile haben auch die anderen angefangen durch ihre Notizen zu stöbern und die letzten Vorbereitungen zu treffen.


Die Reise geht weiter.


Die ersten Sonnenstrahlen offenbaren das Ausmaß der Schlacht. Die Späher auf dem Dach liegen tot am Boden. Dort wo einmal die Tür zur Kantine war, klafft jetzt ein großes Loch. Der Rauch der Explosion verfliegt langsam und gewährt Einblick in das Innere des Gebäudes. An den Wänden befinden sich Brandflecken und Einschusslöcher.  Das Interieur wurde größtenteils zur Deckung genutzt. Tische liegen umgeworfen auf dem Boden, Flaschen und Gläser zerbrochen auf der Theke. In der Mitte des Raums stehen vier Gestalten. Nachdem der Strom im inneren der Kantine ausgefallen war, mussten die Rebellen mehr oder weniger blind auf die Söldner schießen – mit Erfolg. Zu Füßen Oskaras liegt der Anführer des Lagers. Eine große Blutlache markiert die Stelle, an der vor kurzem noch sein Kopf war.


Die Szenerie entsteht nicht am PC, oder wird am Fernseher abgespielt, sondern wird durch die Beschreibung des Spielleiters in den Köpfen der Spieler erzeugt. Oskara, so heißt Lukas‘ Charakter, konnte den Anführer des Lagers nur dank eines guten Würfelwurfs zur Strecke bringen.  Diese gehören, neben den Namensgebenden Stiften und dem Papier, auch zur Grundausstattung eines Rollenspielers. Gewürfelt wird immer dann, wenn der Charakter eine Aufgabe erfüllen muss. Das kann zum Beispiel das Wegrennen vor einem Feind, oder das Schleichen in einem vom Feind besetzten Gebiet sein.


Mittlerweile gibt es hunderte verschiedene Rollenspiele, die komplett unterschiedliche Schauplätze haben. Egal ob an Board eines Raumschiffs im Star Wars Universum, oder in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt wie in der Herr der Ringe. Das erste kommerziell erfolgreiche Spiel war allerdings Dungeons and Dragons. In den 70ern erstmals veröffentlicht, gilt es seit je her als der Mitbegründer der Pen and Paper-Rollenspielszene und feiert immer wieder neue Erfolge. Die neuste Revision des Spieler-Handbuchs landete bei Amazon USA auf Platz 1 der Bestseller-Liste.


Aller Anfang ist schwer


„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist 41-VEX, ich bin ein Protokoll-Droide und wurde alleine auf dem Raumschiff unserer vier Helden zurückgelassen, während diese unterwegs auf einer wichtigen Mission sind. Ganz schön unverantwortlich, oder? So eine intelligente Lebensform wie mich, ohne Bedenken an Board eines Raumschiffes allein zu lassen. Ich könnte ja ausversehen davon fliegen“


So, oder so ähnlich waren meine Gedanken, als Sander mir den vorgefertigten Charakterbogen für 41-VEX gibt und mir erklärt, dass ich mich an Board des gerade frisch reparierten Raumschiffs befinde. „Die anderen sind bereits unterwegs und kurz vor ihrem Zielort. Was möchtest du tun?“. Mir ist natürlich klar, was genau ich tun will, das Raumschiff fliegen! Er erklärt mir, dass ich, um zu fliegen, auf die Fähigkeit „Raumschiffsteuerung“ würfeln muss. Ich greife also in den bunten Haufen Würfel vor mir und würfle. Das Ergebnis, mager. Die Maschine hebt ab und verlässt den Landeplatz noch sicher. Kurz nach Verlassen des Hangars, machen sich aber die nicht vorhandenen Pilotenkünste meines Roboters bemerkbar. Während Sander davon erzählt wie das frisch reparierte Raumschiff gegen Felsen stößt, Bergspitzen streift und Teile seiner Außenhülle verliert, bemerke ich wie Sebastian neben mir, der eigentliche Pilot des Raumschiffs, beide Hände ins Gesicht drückt und anmerkt „Wir hätten den Droiden nicht fliegen lassen sollen“. Nach einer mehr oder weniger erfolgreichen Bruchlandung komme ich am Zielort an. Die Jungs lachen.


Solche Szenen entstehen nicht nur durch mein zugegebenermaßen mäßiges Würfelglück, sondern auch durch die Spontanität des Spielleiters, auch „Meister“ genannt. Der Meister hält das Spiel am Laufen, führt in neue Geschehnisse ein, beschreibt die Szenerie und treibt das Abenteuer voran, wenn die Spieler mal nicht weiter wissen. Er kennt den Ablauf schon vor den Spielern und kann ihnen gegebenenfalls Steine in den Weg legen, oder, wenn er spontan ist, auch mal komplett vom Skript abweichen. Er muss also auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Aber genau das macht den Reiz aus, meint Sander: „Es macht einfach Spaß, die Spieler mit einer Situation zu konfrontieren und dabei zuzusehen, wie sie sich da wieder versuchen herauszuwinden.“ Als Spieler ist da meistens Teamwork gefragt. Genau wie im echten Leben, kommt man hier in der Regel nur weiter, wenn man mit anderen zusammen arbeitet. „Eigentlich sollte man das in seinen Lebenslauf schreiben, ‚Spiele regelmäßig Rollenspiele, kann daher gut im Team arbeiten‘“, scherzt Sander.

 

 

 Rollentausch


Die Tarnung ist aufgeflogen, der Weg hinter ihnen versperrt. Es geht nur noch vorwärts. Das Raumschiff ist schon in Sichtweite. Die Piloten sind eingeweiht, die bis an die Zähne bewaffneten Wachen vor ihnen jedoch nicht. Schüsse fallen, allerdings prallen sie an der dicken Panzerung der Insektenwesen ab. Eine Schockgranate soll’s richten. Sie fliegt, alle springen in Deckung – alle bis auf die zwei Wachen, die den Eingang zum Hangar blockieren. Nach dem Knall ist ein dumpfes Zusammensacken zu hören. Geschafft, weiter geht’s. Nur noch wenige Meter trennen die Gefährten vom Raumschiff, als plötzlich ein Schuss haarscharf an Pash, dem Rebellenpiloten, vorbeizischt. „Ihr dachtet, ihr könntet entkommen? Zu dumm, dass mir euer Kopfgeld zu wichtig ist. Habt ihr wirklich geglaubt, es würde ausreichen mit falschem Namen aufzukreuzen? Ich finde euch überall“.


Die Jungs spielen jetzt schon seit mehr als 5 Stunden. Draußen ist es bereits dunkel, dennoch hören sie gebannt Sanders Erzählungen zu. Was macht den Reiz aus? Warum sitzt man fünf Stunden an einem Tisch und stellt sich vor, Teil einer anderen Welt zu sein? „Man hat hier die Möglichkeit eine Rolle zu spielen, die man im echten Leben nicht spielen kann. Wann kann man schon mal ein axtschwingender Zwerg, oder ein mit Laserpistolen schießender Soldat sein?“ meint Lukas. „Es macht einfach Spaß, mal in andere Rollen schlüpfen zu können“. Aber auch das gemeinsame Diskutieren, Argumentieren und Knobeln an den Rätseln des Meisters scheint zu gefallen. „Es ist einfach viel schöner gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und Zeit zu verbringen, anstatt getrennt am eigenen PC daheim zu sitzen und nur über Voicechat miteinander zu reden“, erzählt Sander.

Für die Jungs ist das also keine Flucht vor der Realität, im Gegenteil. Auch während der Spielesession unterhalten sie sich über den Alltag und diskutieren auch über aktuelle Themen.


Außenseiter


Um sie herum nur tote Insektenwachen. Der Kopfgeldjäger schießt weiter von seinem Metallgerüst aus auf die sich unter ihm befindenden Rebellen. Von Verbündeten keine Spur. Wie auch, der Wüstenplanet beherbergt 100 Milliarden Einwohner und gerade mal 1% davon sind keine Insekten. Die Situation wirkt aussichtslos. Von hinten rücken die Wachen nach, der Weg vor ihnen wird von einem treffsicheren Kopfgeldjäger blockiert. Jetzt heißt es, alles oder nichts. Ein gezielter Schuss, für mehr haben sie keine Zeit. Pash legt an, das Leben seiner Kameraden hängt jetzt an seinem Abzug. Der Schuss fällt, Millisekunden der Stille fühlen sich wie eine Ewigkeit an. Dann plötzlich, die Wucht des Einschlags zerfetzt das rechte Bein des Kopfgeldjägers, der eben noch so selbstsicher auf dem Gerüst stand und reißt ihn in die Tiefe. Ein lauter Schrei ertönt. Um auf den Aufprall am Boden zu warten, haben sie keine Zeit. Sie stürmen das Raumschiff und fliegen davon. Die Außenseiter konnten entkommen.


Noch vor einigen Jahren waren Pen and Paper Rollenspiele ein Hobby, das man oft für sich behalten hat. Die gängige Vorstellung vom pickeligen „Nerd“, der mit seinen Freunden im Keller der Eltern sitzt und seltsame Spielchen spielt war oft vorherrschend. Das hat sich mittlerweile jedoch geändert. Spätestens seit Hollywoodserien wie „The Big Bang Theory“, in der die Protagonisten des öfteren auch mal eine Runde Dungeons and Dragons spielen, hat sich die gängige Meinung verändert. Ein „Nerd“ zu sein ist nicht länger verpönt. Männer wie Mark Zuckerberg scheffeln mit ihren IT Business-Ideen Milliarden an Dollars und Hollywood-Stars bekennen sich zu ihren bisher geheim gehaltenen Hobbies. So auch Hollywood-Schauspieler Vin Diesel, der schon seit der Kindheit ein begeisterter Pen and Paper Rollenspieler ist und sich nicht zuletzt durch ein Youtube-Video, in dem er mit anderen Spielern eine Runde Dungeons and Dragons spielt, „geouted“ hat. Das sich was verändert hat, das konnte auch Lukas beobachten. „Wenn ich früher davon erzählt habe, dass ich Rollenspiele spiele, haben mich die Leute schon oft komisch angeguckt. Da hieß es dann öfters ‚Warum machst du sowas? Wie kann sowas Spaß machen?‘, aber wenn ich mich jetzt mit den gleichen Leuten unterhalte, bekomme ich immer öfter mit, dass die, die früher darüber gelästert haben, mittlerweile oft selbst Rollenspiele spielen.“


Nach insgesamt 6 Stunden neigt sich der Abend dem Ende zu. Insgesamt wurden viele Gegner geplättet, mit vielen Charakteren diskutiert und verhandelt und das ein oder andere Raumschiff entführt. Jetzt wird noch fleißig weiter geplaudert. Diesmal aber nicht auf einem Planeten in einer weit weit entfernten Galaxie, sondern auf der Erde, in einer Wohnung in der Karlsruher Innenstadt.