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Wenn der Mitbewohner zur Mama wird

Es sollte der Start in ein freies, selbstbestimmtes Leben werden. Vor einigen Jahren zog Matthias Giering von zu Hause aus, um mit zwei Freunden in einer Wohngemeinschaft in Stuttgart zu leben. Mit niemandem mehr, der ihm sagt, was zu tun ist, der ihn an Pflichten erinnert und auffordert aufzuräumen, nicht zu lange feiern zu gehen und sich auf das Lernen zu konzentrieren. Dachte er. Doch bald entfernte einer seiner Mitbewohner die Spielkonsole aus dem gemeinsamen Wohnzimmer, weil ihm alles zu unordentlich war. „Das war schon eine erzieherische Maßnahme", sagt der 24 Jahre alte Politikstudent. So wie früher bei Mama und Papa.

Wer als Student in eine Wohngemeinschaft zieht, sucht oft Mitbewohner zum gemeinsamen Kochen, Spaßhaben, Quatschen - aber mit denen man einander zugleich in Ruhe lässt. Die Zimmernachbarn sollen nicht zu anhänglich oder regelfixiert sein. Vorzüge des Familienlebens wie Zusammenhalt, Fürsorge und Vertrauen wollen aber trotzdem weiterhin genossen, die alten Anstrengungen und Pflichten aber abgeschüttelt werden. So findet das WG-Leben in einem Spannungsfeld aus neuer Freiheit und alten Gewohnheiten statt.

Lange Haare im Waschbecken und verschimmelter Käse im Kühlschrank

Mit den Konflikten, die daraus erwachsen, hat Ludger Büter täglich zu tun. Der Psychologe arbeitet als Mediator im Kölner Studentenwerk und ist auf Konflikte in Wohngemeinschaften spezialisiert. Er sagt: „Überall, wo Menschen zusammenkommen, entwickeln sich Hierarchien und Rollenmuster. Schließlich sind wir komplexe Persönlichkeiten und keine Gasmoleküle." Jeder WG-Bewohner wolle seinen eigenen Lebensstil verfolgen, müsse aber dennoch Kompromisse eingehen. So reichen oft schon lange Haare im Waschbecken, verschimmelter Käse im Kühlschrank oder fünf fehlende Euro in der WG-Kasse für eine ausufernde Diskussion, die das Projekt in Frage stellt.

Dem WG-Klischee der Anarchie steht im wirklichen Leben ein Alltag voller kleiner Streitigkeiten über Regeln gegenüber. Während im klassischen Familienbild die Rollen von Beginn an verteilt sind, erscheinen die Beziehungen der WG-Bewohner untereinander instabiler. Jeder beharre auf sein Recht, niemand fühle sich dem anderen verpflichtet, sagt Büter. Und anders als die eigene Familie könne die WG frei gewählt werden.

„Manchmal anstrengend, aber immer fair"

Die Studentin Marlen Sartorius würde daher ihre WG auch nie eine Ersatzfamilie nennen. Außerdem sei der Begriff der Familie heutzutage sowieso schwammiger als vor zwanzig Jahren. „Es ist ja gerade das Tolle am WG-Leben, das jeder nur für sich selbst verantwortlich ist",, sagt die Architekturstudentin aus Mainz. „In allen wichtigen Dingen entscheidet die Mehrheit. Das ist zwar manchmal anstrengend, aber immer fair", meint sie. Eine Sichtweise, welcher der WG-Psychologe Büter widerspricht: In Wohngemeinschaften bildeten sich Hierarchien heraus und jeder nehme die Rolle ein, in der ihn die Mitbewohner als am nützlichsten empfänden. Zwar will kaum jemand gern von sich behaupten, der WG-Papa oder die WG-Mutti zu sein, doch analog zum Familienleben kristallisiert sich auch in der Wohngemeinschaft schnell heraus, wer als kontrollierender Organisator, lässig in den Tag hinein lebende Hipsterbraut oder verwöhnter Einzelgänger auftritt. „Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Verteilung in Stein gemeißelt ist", sagt Büter. Was passiert zum Beispiel, wenn zwei Zimmernachbarn plötzlich gleichzeitig die neu eingezogene Studentin aus der Wohnung gegenüber nach einem Date fragen wollen?

Wenn neue Leute einziehen, werden die Rollen oft neu verteilt. Selbst jeder Zwischenmieter sorge für eine neue Atmosphäre und Anpassung der Rollen, meint Büter. Und selbst wenn die WG über Jahre in der gleichen Konstellation bestehen bleibt, steht und fällt die Dynamik mit der Lebenssituation der Bewohner. Marlen Sartorius wohnt beispielsweise nun schon seit anderthalb Jahren mit einer Kommilitonin und einem Politikstudenten zusammen. Zunächst war Sartorius die einzige Bewohnerin mit festem Partner, dann bildeten die drei für einige Zeit gemeinsam eine reine Single-WG, und nun bekommt die für einige Monate eingezogene Zwischenmieterin regelmäßig Besuch von ihrem Freund. Jedes Mal veränderte sich das gemeinsame Zusammenleben. „Als drei Singles hier gewohnt haben, war viel mehr Leben", sagt Sartorius. „Wir haben automatisch mehr miteinander gemacht, weil niemand irgendwelche Verpflichtungen hatte." So verschwindet das anfängliche Freiheitsgefühl oft deswegen, weil die Bewohner erwachsen werden - und sich mit dem Arbeitsbeginn, einer festen Partnerschaft binden.

Irgendwann endeten in der Mainzer WG die gemeinsamen Abende in der Küche oder auf dem Balkon. Und anstatt mit ihrer Kommilitonin bei einer Zigarette über Probleme zu sprechen, übertrug die 24-Jährige nun mehr ihrem männlichen Mitbewohner die Rolle des Zuhörers, dem sie beim Fußballgucken ihre Sorgen anvertraut. „Daran muss man sich gewöhnen", sagt sie. Matthias Giering hingegen wohnt hingegen mittlerweile in Frankfurt mit zwei männlichen Mitbewohnern zusammen. Mehr Leute sollten es nicht sein. „In größeren WGs gibt es immer ein paar Freerider, die sich nicht am gemeinsamen Leben beteiligen", sagt er.

Daran, dass es auch in Wohngemeinschaften Hierarchien und klare Verantwortlichkeiten gibt, hat er sich gewöhnt. Trotzdem testen er und seine Mitbewohner weiterhin wie heranwachsende Teenager untereinander Grenzen aus. „Die ersten Wochen benehmen sich alle, dann fängt der Erste an, nicht mehr alles wegzuräumen oder bis spät in die Nacht laut Musik zu hören", sagt er.

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