Nötig geworden war der Einsatz aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Krise, die Anfang 1997 Albanien erschütterte. Durch den Zusammenbruch betrügerischer Anlagegesellschaften hatten viele Albaner ihr Vermögen verloren. Die Wut der Bevölkerung auf die Regierung unter dem damaligen Präsident Sali Berisha entlud sich in einem Aufstand, der zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Land führte.
Wie dramatisch die Situation war, zeigen bislang unter Verschluss gehaltene Akten des Auswärtigen Amtes, die MDR Investigativ erstmals einsehen konnte. Ab Februar 1997 berichtete die deutsche Botschaft in Tirana nach Berlin, wie sich die Lage immer mehr zuspitzte. In einem Schreiben heißt es etwa: "Unkontrollierte Gruppen bemächtigen sich der Waffenlager. Die Ordnungskräfte treten nicht in Erscheinung." Dokumentiert ist auch ein Bittgesuch von Präsident Barisha an den Westen, seiner Regierung militärisch beizustehen. Berlin sah dafür jedoch keine Grundlage. Nachdem sich die Unruhen auf die Hauptstadt Tirana ausgeweitet hatten, beschloss die Bundesregierung am 13. März 1997, die im Land verbliebenen Deutschen zu evakuieren.
Noch am selben Abend laufen im deutschen Feldlager Rajlovac bei Sarajevo die Vorbereitungen für die Operation an. Anders als heute kommen dabei keine auf Evakuierungen spezialisierte Einheiten zum Einsatz. Das Kommando Spezialkräfte (KSK), das für solche Aufgaben vorgesehen ist, befindet sich noch in Aufbau. Mit der Rettungsmission beauftragt wird stattdessen das Bundeswehrkontingent der UN-Stabilisierungsmission SFOR in Bosnien, dem auch Michael Misch angehört: "Nachts um halb zwei hat mich ein Oberstleutnant geweckt. Er hat gesagt: 'Geh durch den Compound. Guck, wer nicht besoffen ist und dienstfrei hat. Sammle ein, was du kriegen kannst'", erzählt Misch.
Die knapp 90 ausgewählten Bundeswehrsoldaten - darunter Heeresflieger, Panzergrenadiere und Sanitätssoldaten - werden am nächsten Morgen im Schnelldurchgang auf den Einsatz vorbereitet; unter anderem an Waffen wie der Panzerfaust 3, die damals noch nicht zum Arsenal der Einheiten gehörten. Eine Einweisung an neuen Satellitentelefonen erfolgt in letzter Minute bei der Zwischenlandung im kroatischen Dubrovnik. Dort stößt auch der aus Deutschland eingeflogene Militärattaché für Albanien dazu, der als einziger eine einfache Stadtkarte von Tirana im Gepäck hat.
Eine zusammengewürfelte Einheit, ungewohnte Ausrüstung, kaum Kartenmaterial: Michael Misch hält es für großes Glück, dass der Einsatz nicht in einem kompletten Desaster endete: "Eigentlich hätte alles schiefgehen müssen", sagt er.
Gefährlich wird es schon beim Anflug der sechs CH-53-Transporthubschrauber auf Tirana. US-amerikanische Einheiten, die zeitgleich einen Evakuierungsflug durchführen, melden Raketenbeschuss und brechen ihre Mission ab. Auch der Hubschrauber, in dem Misch sitzt, wird von einem Geschoss getroffen, kann aber sicher in Tirana landen.
Wir haben einfach den Kopf runtergedrückt und gehofft, dass es uns nicht trifft. Du bist hilflos in dem Moment.
Nach kurzem Beschuss drehen die Fahrzeuge ab. Insgesamt 188 Patronen aus Maschinengewehr, G3-Sturmgewehr und Pistole werden in diesen Minuten von sieben Bundeswehr-Soldaten verschossen, wie die Bundeswehr penibel in ihren Akten festhält. Dort ist auch nachzulesen, dass die Angreifer dem albanischen Geheimdienst angehörten und vermutlich den Auftrag hatten, auf dem Flugfeld wartende Albaner auseinanderzutreiben.
Die Bundeswehr-Hubschrauber fliegen zunächst nach Podgorica in Montenegro. Eine Gruppe von Albanern, die sich gemeinsam mit Margjini und dem deutschen Botschafter in den ersten Hubschrauber gedrängt hat, schicken die Behörden zurück nach Albanien. Die übrigen Zivilisten werden nach Rajlovac und von dort weiter nach Deutschland gebracht.
Danach war ich froh, dass wir die Bundeswehr haben. Die Soldaten haben für mich ihr Leben riskiert. Dafür bin ich dankbar.
Manuela Margjini wurde aus Albanien gerettetIhre Einstellung zur Bundeswehr habe sich durch den Einsatz verändert, sagt Margjini. Davor habe sie sich gefragt, wozu es das Militär noch brauche. "Danach war ich froh, dass wir die Bundeswehr haben. Die Soldaten haben für mich ihr Leben riskiert. Dafür bin ich dankbar."
Auf ein offizielles "Danke" mussten die beteiligten Soldaten 25 Jahre warten. Erst im Sommer 2022 entschied sich die Bundeswehr, eine sogenannte Einsatzmedaillen für lange zurückliegende Evakuierungsoperationen der Bundeswehr zu stiften: die Operation "Libelle" und die Operation "Pegasus" 2011 in Libyen. Zuvor gab es solche Medaillen nur für Soldaten, die mindestens 30 Tage im Auslandseinsatz waren. Evakuierungen dauern in der Regel jedoch nur wenige Tage. Laut Bundeswehr wurden bislang 29 Medaillen für an der Operation "Libelle" beteiligte Soldaten vergeben.
Die Soldaten müssen die Einsatzmedaillen selbst beantragen und beweisen, dass sie an der Operation beteiligt waren. Die Bundeswehr verschickt die Medaillen dann per Post. Für die Einsatzveteranen Misch und Kröpfl hat eine Auszeichnung, um die man sich selbst bemühen müsse, keinen Wert. "Es geht ums Prinzip. Das muss von der Bundeswehr selbst kommen", sagt Kröpfl.
Eine Recherche im Militärarchiv in Freiburg zeigt, dass dies auch bei älteren Einsätzen möglich ist. In Akten des Verteidigungsministeriums zur Operation "Libelle" findet MDR Investigativ eine Liste mit Teilnehmern: darunter Markus Kröpfl und Michael Misch. Auch der Name Lars B. steht darauf. Der ehemalige Panzergrenadier aus Regen war als Scharfschütze an der Operation beteiligt - und seine Kameraden von damals versuchen seit Jahren, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
MDR Investigativ erkundigt sich bei der Berliner Stadtmission nach Lars B. Ein Mann, der ebenfalls obdachlos ist, will bei der Suche helfen. Dann kommt aus Veteranenkreisen die Nachricht, Lars B. sei im Sommer 2020 leblos am Alexanderplatz in Berlin aufgefunden worden. Die Berliner Staatsanwaltschaft, die seinerzeit ein Todesermittlungsverfahren geführt hat, bestätigt das.
Auch Michael Misch hat sich an der Suche nach Lars B. beteiligt und Aufrufe in den Sozialen Medien geteilt. Er habe angeboten, Lars B. und seinen Hund bei sich aufzunehmen, sagt Misch. "Aber es war da schon zu spät." Nun hat Misch gemeinsam mit anderen Veteranen eine Gedenkmünze prägen lassen, um an die Operation "Libelle" zu erinnern - und an jene, die es nicht geschafft haben.