Und das zieht die Leute an. Nicht nur die Charkiwer, sondern Menschen aus aller Welt. Händler aus afrikanischen Staaten, Zentralasien, dem Kaukasus, Vietnamesen und Chinesen. Sie arbeiten hier in Konkurrenz zueinander, aber auch zusammen. Denn obwohl jeder seine Ware an Mann und Frau bringen möchte, scheint das Zusammenleben zwischen so vielen verschiedenen Kulturen zu funktionieren. Neben Verkaufsständen besitzt der Markt eine eigene Feuerwehr und Polizeistation. In einem hinteren Teil des riesigen Geländes, jedoch nicht komplett abgelegen, in einem beigefarbenen Wellblechgebäude befindet sich sogar eine Moschee. Wir sind überrascht, ob der kulturellen Vielfalt und möchten mit den Menschen vor Ort sprechen.
Doch das gestaltet sich schwieriger als gedacht. Wir fallen auf, unsere Fotokamera wird misstrauisch beäugt. Wir kommen trotzdem mit einem Verkäufer ins Gespräch, seinen Namen möchte er jedoch nicht preisgeben, Fotos mache er auf keinen Fall. Die Händler seien vorsichtiger geworden, sagt er. An diesem Samstag könnten Steuerbeamte aus Kyiv zur Kontrolle kommen. Einige haben ihren Stand heute gar nicht erst aufgebaut. Auch insgesamt sei das Geschäft schwieriger geworden. Die Schuhe, die der Händler seit vielen Jahren verkaufe, seien nicht billig. 450 Hrynia, 14 bis 15 Euro. Für viele Charkiwer ist das viel Geld. Auch die vielen Binnenflüchtlinge aus Lugansk und Donetsk, von denen viele in der Stadt sind, können sich kaum etwas leisten. Russische Kundschaft hat der Verkäufer seit Beginn des Krieges in der Ostukraine so gut wie keine mehr.
Das Zusammenleben mit den Kulturen funktioniere gut, sagt sein
Bekannter, der jedoch auch lieber anonym bleiben will. Er selbst hat
früher auf dem Markt gearbeitet, heute schaut er nur vorbei. Nicht alle
Sachen auf dem Markt können günstiger angeboten werden, einige Preise
ähneln denen der Boutiquen in der Innenstadt. Die Jugend geht lieber in
andere Läden, beispielsweise in die zahlreichen Second-Hand-Shops im
Zentrum. Schnäppchen könne man vor allem bei den vietnamesischen
Händlern machen. Sie machen einen Großteil des Marktlebens aus. Das
Zusammenleben mit so vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft ist für
den Verkäufer kein Problem, die Moschee sei eine gute Sache, um die
Multikulturalität zu fördern.
Wir würden gerne noch länger auf dem Markt bleiben, das Vertrauen
unserer Gesprächspartner gewinnen und mehr erfahren, doch uns drängt die
Zeit, der nächste Termin unserer Exkursion steht an. Wir laufen zurück
zur Metro. Wir fragen einen Sicherheitsmann nach dem Weg und sind
überrascht, als er uns auf Englisch antwortet. Gerne würde er uns mehr
über den Markt erzählen, jetzt sei er jedoch im Dienst. Wir erzählen ihm
über unser Projekt und die Frage nach der ukrainischen Identität. Wenn
wir auf Russisch fragen, antwortet er auf Ukrainisch. Der Mann erzählt,
dass die vielen Geflüchteten eine Herausforderung für die Stadt seien.
Schließlich sei es jetzt schon voll. Dann komm er ein Stück näher an uns
heran und sagt: „Unter uns gesagt. Charkiw ist eine pro-russische
Stadt. Auch wenn man es im Zentrum nicht sieht.“
Wir verlassen den Markt mit vielen Fragen im Kopf. Ein wenig scheint die
Zeit auf dem Barabashovo stehen geblieben zu sein. Er steht im
Gegensatz zu unseren Gesprächen mit den jungen, progressiven Ukrainern.
Und doch können wir nicht genau einschätzen, wie viele Menschen auf dem
Baraban die Einstellung des Sicherheitsmannes teilen. Wir vermuten, dass
es bei weitem nicht alle sind, jedoch mehr als bei unseren vorherigen
Treffen. Es zeigt sich einmal mehr, wie vielschichtig die Frage nach
ukrainischer Identität ist. Wir steigen in die Metro, welche Richtung
Zentrum fährt und nehmen uns vor, dass dies nicht der letzte Besuch auf
dem Barabashovo ist.
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