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Auf der Ersatzbank

Aussortiert und abgeschoben: 200.000 Menschen besuchten im vergangenen Jahr AMS-Kurse, in der Hoffnung, wieder einen Job zu bekommen. Aber wie sinnvoll ist das? Ein persönliches Fazit nach vier Wochen Englischkurs

Das Tor zu Österreichs Ersatzbank ist aus Glas. Es führt in ein großes Haus, dessen weißer Anstrich vom Regen verwittert ist. Als ich das erste Mal hineingehe, fühle ich mich wie eine Versagerin. Innerhalb eines halben Jahres stürzte ich von der weltreisenden Journalistin zu einer Arbeitslosen, die zum AMS-Englischkurs gehen muss, um länger Geld vom Amt zu bekommen. Damit ich mich besser fühle, rede ich mir ein, dass der Kurs eine Chance ist. Nicht, weil die Redaktionen Österreichs darauf gewartet
haben, dass ich ein Zertifikat für mein Englischniveau bekomme. Sondern, weil ich als Reporterin den Blick ins System von innen selten habe. Jetzt also ein AMS-Kurs.

Allein im Vorjahr belegten fast 200.000 Menschen einen Kurs, vermittelt vom Arbeitsmarktservice (AMS). Arbeitslose sollen damit ihre Chancen auf einen Job erhöhen können, heißt es bei der Bundesbehörde. Tatsächlich bekam österreichweit jeder zweite Kursteilnehmer spätestens sechs Monate nach Schulungsende einen Arbeitsplatz. In Wien war es jeder Dritte.

Die Gänge des Berufsförderungsinstituts (BFI) im 19. Wiener Gemeindebezirk sind lang. Zu beiden Seiten zweigen Klassen- und Computerräume ab. Ich stelle mich vor Raum 303 zu einer Gruppe von Leuten. „Macht ihr den Englischkurs? Das wird bestimmt toll“, sage ich naiv. Ein Typ um die 30 lächelt mich an. Er trägt ein verwaschenes T-Shirt und Jeans. „Bullshit“, sagt er. „Das ist nur eine Masche, damit das AMS weniger Arbeitslose verzeichnet.“
Tatsächlich scheinen die Kursteilnehmer in keiner Arbeitslosenstatistik auf. Für das AMS sind wir Arbeitssuchende – ein Unterschied für die Behörde, nicht für uns.
Mein neuer Kollege erzählt, dass er viele Kurse absolviert hat. Einen Job hat er danach nie gefunden. „Ist doch klar. Die da draußen suchen Leute, die richtige Ausbildungen in richtigen Jobs gemacht haben und nicht für ein paar Monate in irgendwelchen Schulungszentren saßen.“

Die Tür zu Raum 303 öffnet sich. Die Klasse ist klein, stickig, eng. Die Holztische bilden eine U-Form. Die Aussicht auf den Parkplatz ist grau. Um Punkt 13.30 Uhr sitze ich mit elf weiteren Teilnehmern auf den Schulsesseln. Der Kollege, der sich eben so über das System aufgeregt hat, stellt sich als Anton* vor. Er möchte was mit IT machen, ist seit drei Jahren arbeitslos und gibt die Schuld dafür seiner AMS-Vermittlerin. Nur Anton redet. Alle anderen in der Klasse versinken hinter ihren Handys und Büchern – mich eingeschlossen, ich bin nervös. Das letzte Mal, dass ich auf einer Schulbank saß, war an der Uni. Aber für Erinnerungen bleibt jetzt keine Zeit.

„Good afternoon everybody!“ – Rod Pritchard-Smith tritt vor die Tafel und schreibt seinen Namen drauf. Ein waschechter Engländer in V-Kragen-Pullover und Cordhose. Wir sollen ihn Rod nennen. Rod ist ein Weltreisender. Er lebte schon in China, Griechenland, Saudi-Arabien und seit 20 Jahren in Österreich. Früher war er selbst Journalist. Weil er damit zu wenig Geld verdiente, sattelte er um auf Lehrer. Eine Sekunde überlege ich, ob das ein Zeichen für mich ist. Dann will Rod wissen: Name, Alter, Beruf. Reihum gewährt jeder jedem einen Einblick in sein Leben. Wie bei den Anonymen Alkoholikern, denke ich. Nur, dass wir auf Englisch sprechen. Teils stotternd, teils fließend. Das Sprachniveau in unserem Kurs sollte dem Englisch in einer Maturaklasse gleichen. B2 nennt sich das und ist das höchste Sprach- niveau, das vom AMS vermittelt wird. Wochen vor dem Kurs hatten wir einen Einstufungstest am Computer absolviert. Jetzt zeigt sich, dass uns der Computer zusammengewürfelt hat. Anton fällt das Sprechen schwer. Er findet die Vokabeln nicht so schnell. Macht nichts, Zeit haben wir alle.

Wir sind ein bunter Haufen: Da ist Angelo*, 40, aus Italien. Er sucht einen Job als Lehrer für seine Muttersprache. Judith, 31, die ihre Stelle beim Patentanwalt gekündigt hat, um etwas Sozialeres zu finden. Mahnaz, 47, aus dem Iran, hat früher die Personalabteilung eines internationalen Konzerns geleitet und wurde wegrationalisiert. Der IT-Spezialist Mario*, 53, aus Rumänien: Er verlor seinen Job, nachdem sein Chef einen tödlichen Motorradunfall hatte und dessen Firma daraufhin pleite ging. Ferdi, 20, versucht, sich mit seinen IT-Kenntnissen selbstständig zu machen. Ahmed und Lukas sind beide 21, beide wollen studieren und überbrücken hier die Zeit bis zum Semesterstart. Nour, 22, aus Syrien: Sie will Übersetzerin werden und weiß nicht, wie sie das anstellen soll. Gabi*, 42, hat Bodenkultur studiert und sucht seit mehr als einem Jahr einen Job. Natascha, 25, ist Biologin: Sie hat ihre Masterarbeit sogar auf Englisch geschrieben. Und dann noch Anton, 35, und ich, 31. Niemand von uns glaubt, dass der Kurs uns dabei helfen wird, einen Job zu bekommen. Für die meisten ist es Beschäftigungstherapie. Englisch schadet nie.

Trotzdem: Vier von uns werden am Ende dieses Kurses einen festen Job haben.

Die ersten Tage vergehen schnell. Ich fühle mich, als wäre ich seit Monaten hier. Der Ablauf ist täglich gleich. Erst sprechen wir über alles, was uns bewegt. Unseren Alltag, Bewerbungen. Sehr beliebt sind Diskussionen über Donald Trump. Hauptsache, Englisch sprechen. Dann folgt die Grammatik: Lückentexte mit Präpositionen oder Zeiten auffüllen. Nach einer Woche gibt Anton auf. Er verlässt den Kurs für ein niedrigeres Niveau.
Wir anderen sind motiviert. Ich bin erleichtert, dass ich nicht mehr alleine zu Hause hocken muss. Nicht mehr ständig darüber nachdenke, dass ich besser etwas anderes gelernt hätte. Etwas mit guten Jobaussichten oder finanzieller Sicherheit. Arbeitslosigkeit macht einsam, nimmt einem das Selbstbewusstsein, lähmt. Der Englischkurs rettet mich. Der Trott, meine Kollegen, der immer hoffnungsvolle Rod, der jeden Tag als Erstes fragt: „Did somebody get a job?“ Und der nicht aufgibt, zu motivieren und zu unterstützen: „Hey Mario, ich habe von einer freien Stelle in der Logistik gelesen. Soll ich dir die Adresse raussuchen?“ Das alles hilft.

In der zweiten Woche sind wir schon ein eingeschworenes Team. Wir haben Handynummern ausgetauscht und eine Whatsapp-Gruppe eingerichtet. Kommt jemand zu spät, schickt er eine Nachricht an die Gruppe. Die Pausen verbringen wir gemeinsam. Gabi bringt Honig mit. Das freut alle. Sie ist in ihrer Freizeit Imkerin und rüstet auf Bio-Bienen um. Ein Versuch, vielleicht kann sie sich damit selbstständig machen. Gabi erzählt, dass sie längst einen Job haben könnte. Sie hat einen Arbeits- vertrag unterschrieben. Da der Geschäftsführer zurückgetreten ist, haben sich aber die Zuständigkeiten geändert. Konsequenz: Gabi muss weiter bangen. Wir sprechen ihr Mut zu, den wir selbst kaum haben. Das ewige Warten und Hoffen zehrt an den Nerven. Die sonst immer fröhliche Mahnaz ist heute deprimiert. Allein in der vergangenen Woche hatte sie drei Bewerbungsgespräche. Kein Termin hat die erhoffte Stelle gebracht. „Immerhin wirst du zu Gesprächen eingeladen. Das heißt, es gibt feste Jobs in deiner Branche“, sage ich und bin neidisch. Lehrer Rod bemerkt die schlechte Stimmung und versucht, sie aufzuhellen: Heute keine Grammatik, heute spielen wir englisches Scrabble. Wir jubeln wie Kinder, die hitzefrei bekommen.

In der dritten Woche büffeln wir verstärkt mit den unbeliebten Lückentexten. Wenn Rod abgelenkt ist, rutschen alle zu Natascha rüber. Sie spricht fließend und macht den Kurs, damit ihr zu Hause nicht die Decke auf den Kopf fällt. Mittlerweile sprechen wir auch in den Pausen häufig auf Englisch. Denn Mario aus Rumänien und Nour aus Syrien können kaum Deutsch. Nour hat Alpträume, kämpft mit Depressi- onen, weil ihre Heimatstadt, Raqqa, als erste an die Islamisten fiel. Wenn sie berichtet, schweigen wir. Was ist unser Arbeitslosendasein gegen ihre Erlebnisse?

Am Ende dieser Woche hat die erste einen Job. Judith schreibt an unsere Whatsapp-Gruppe: „Ihr Lieben, ich habe eine Zusage, aber ich mag euch alle wiedersehen!“ Danach folgen Glückwunsch-Nach- richten. Ich freue mich für sie, weil sie der Beweis ist, dass es klappen kann. Dass es wieder aufwärts geht. „Die erste von uns hat es geschafft!“, schreibe ich. „Bäm, nimm das, Arbeitsmarkt!“

Pro Jahr bietet das AMS etwa 4000 Kurse an. Besonders beliebt sind Aus- und Weiterbildungsangebote. Darunter fallen Computerkurse, Bewerbungstraining oder Unterricht, um eine neue Schweißart zu erlernen – und eben Sprachkurse. Ich hatte meine AMS-Vermittlerin damals konkret nach so einem Kurs gefragt. Lieber hätte ich mein Spanisch verbessert oder Russisch gelernt. Aber so exotisch war das Angebot nicht. Mir blieb nur Englisch.

In der vierten Woche sollen wir Präsentationen vorbereiten. Ahmed will über Peru referieren, die Heimat seiner Mutter. Er macht den Kurs freiwillig. Geld vom AMS bekommt er sowieso nicht, aber er durfte das Angebot nutzen. Auch Lukas macht den Kurs aus eigener Motivation. Nach seiner Matura arbeitete er in Tirol im Hotel, jetzt bereitet er sich auf die Sportuniversität in Wien vor. Vor dem Kurs geht er schwimmen, danach Fußballspielen, am Abend lernt er.

In dieser Woche besuche ich nur für drei Tage den Kurs. Ich habe einen Job! Tausend Steine fallen mir vom Herzen. Ich muss weder das Land verlassen noch umschulen. Trotzdem vermisse ich meine neuen Freunde schon. Wir haben einander in einer schweren Zeit gestützt, miteinander geflucht und gelacht. An meinem letzten Tag bringe ich Donuts und Krapfen mit. Rod holt noch einmal das Scrabble-Spiel raus. Alle freuen sich für mich. Mahnaz sagt: „Schreib was über uns. Damit alle sehen, dass es jedem passieren kann, einmal auf der Ersatzbank zu landen.“

Vier Wochen später absolvieren sieben meiner Kurskollegen ihre Abschlussprüfung. Jeder schafft sie. Der Italiener Angelo musste sie nicht machen. Er arbeitet jetzt in seiner Heimat. Gabi hat den Job schlussendlich bekommen. Nour kellnert hin und wieder in einem Café. Lukas hat die Aufnahmeprüfung nicht geschafft und sucht eine Alternative. Ferdi arbeitet weiter an seiner IT-Geschäftsidee. Ahmed will vor dem Semesterstart verreisen, weil er jetzt selbstbewusster Englisch spricht, sagt er. Mahnaz, Natascha und Mario hoffen weiter auf einen Job. Der Rumäne ist für den nächsten Kurs angemeldet – dieses Mal Deutsch. Und Lehrer Rod steht ab nächster Woche vor einer neuen Gruppe Arbeitssuchender. Good luck everybody!

*Namen auf Wunsch geändert