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Review

Praxis UdK: Nicht von dieser Welt

Die Grillen zirpen. Es ist mitten in der Nacht. Es müsste Frieden herrschen. Doch etwas tut sich in den Häusern der Landarbeiter auf dem abgeschiedenen, von der Marquesa de Luna beherrschten Gut Inviolata, zu deutsch ‘unversehrt’, ‘unberührt’, ‘intakt’. Zwar ist der Alkohol rar, um die Vermählung von Mariagrazia und Giuseppe zu begießen, umso üppiger sind die Aufforderungen – vom Tonfall her muten sie Befehlen an – die Lazzaro bereits zwei Minuten nach Filmbeginn entgegengenommen und ohne Widerrede ausgeführt hat: die Großmutter umsetzen, das Huhn in den Stall bringen, mal eben kurz die Vertretung der Nachtwache vor dem Stall übernehmen. Diese Figur, das bemerkt man gleich, ist der Film – und: Sie ist nicht von dieser Welt. Jeder Ermüdung erhaben, immun gegenüber dem herrschenden Unrecht, resistent, was die Ausbeuterei seiner Person betrifft. Ja, vor allem erhaben kommt er daher, dieser Lazzaro. Unberührbar von der Härte der ihn umgebenden Menschen.


Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Rohrwacher zeichnet das Bild eines Heiligen: selbstlos, gut, mit reinem Herzen und unverwundbar. Er nimmt sich seiner Aufgaben mit stoischer Gelassenheit an, ohne dabei auch nur im Geringsten die Motive seiner Umwelt zu hinterfragen. Aufrühren? Lazzaro wüsste nicht, wogegen. Er muss glauben, dass alle so unbedarft sind wie er selbst. Er, der Inbegriff des Gutmenschen, kennt keine Niedertracht, und kann sie somit auch nicht in seinen Mitmenschen orten. Lazzaro, aus dem Hebräischen el, ‘der Mächtige’ und azar, ‘helfen’, übersetzt “Gott hat geholfen”, hilft seinen Leuten, ohne auch nur ein Dankeschön zurückzubekommen. Man sieht es seinem schwebenden Gang, den sanften Bewegungen und seinem aufrichtigem Blick an, durchdrungen von herzzerreißender Reinheit und Unschuld, dass er ein solches noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erwarten würde. Er wartet geduldig auf den nächsten Tag, die nächste Aufgabe, den regelmäßigen Ruf der Pflicht. “An dir sollten sich alle ein Beispiel nehmen”, lobt ihn der Helfer der Marquesa, für den er Kisten schleppt, wofür er eine Packung Kaffee bekommt. Natürlich meint er Lazzaros Fleiß, sein Pflichtbewusstsein, nichts ist ihm zuviel. Was er geben kann, gibt er gerne, er möchte die Tabakerntehelferinnen mit Kaffee beglücken und bald darauf den Sohn der Marquesa, dem er seinen abgeschiedenen Lieblingsplatz zeigt. Der junge Marquis ist angetan von Lazzaro, er wünscht ihm eine gute Nacht: “Lazzaro, buona notte!” – ein kurzes Auflodern von Respekt – im Kontrast zu den gleichzeitigen Kommandorufen seiner Leute: “Leer die Karre aus, Lazzaro, trag die Großmutter rein …”


Aus der Begegnung zwischen dem höheren Sohn und dem Landarbeiter entwickelt sich eine alles verändernde Dynamik, das Grillenzirpen weicht starkem Wind. “Wir beuten sie aus, sie beuten diesen armen Mann aus, so geht das immer nach unten weiter”, erklärt die Marquesa. Tancredi, der junge Marquis, entgegnet: “Vielleicht beutet er niemanden aus?” – “Das ist unmöglich”, antwortet sie. Nun wendet sich Tancredi gegen das Ausbeutungssystem seiner Mutter, erst macht er sich den nichtsahnenden Lazzaro zum Komplizen, dann gar zum Halbbruder und täuscht seine eigene Entführung vor.


Das vom Sommer vertrocknete Gestrüpp beginnt lautstark zu zittern. Lazzaro kann die Tragweite der Taten seines Halbbruders nicht begreifen, er tut das, was er immer tut: was von ihm verlangt wird. Denn auch, wenn sich der Marquis gegen die Feudalherrschaft seiner Mutter aufbäumt, so bleibt er in seinem ganzen Gestus und Habitus doch dem eines selbstherrlichen Herrschers verhaftet, von oben herab bestimmt er über Nähe und Distanz. Lazzaro versorgt ihn mit Essen, besucht ihn zuverlässig in der Abgeschiedenheit des Verstecks, doch das immer größer werdende Ausmaß an Aufmerksamkeit, das der Marquis fordert, verträgt sich nicht mit dem geforderten Leistungsvolumen der Tabakplantage. Die anderen werden misstrauisch und appellieren an ihn, seine Arbeit zu verrichten. Dafür hat Tancredi kein Verständnis: “Ein echter Halbbruder würde so etwas nie tun!”


Aus dieser Vorhaltung entsteht in Lazzaro ein innerer Konflikt, an dem er erkrankt. Die anderen vermuten, er sei wieder einmal verzaubert oder schlichtweg ausgebrannt. Das Fieber lähmt ihn, sein Blick ist in sich gekehrt und starr, in ihm erkennt man den Schmerz über die Enttäuschung, die ihm sein Freund zum Vorwurf macht. Die Lage ist ernst, Lazzaro könnte sterben, man legt ihn neben die Großmutter ins Bett. Im Fieberdelirium erkennt er zwei Scheiben Brot an seinem Bett, die er an sich nimmt, um sie ins Versteck zu Tancredi zu bringen. Doch auf dem Weg reißt ihn der Schwindel hinab in die Tiefe der von Berg und Tal geprägten Landschaft. Dort in der Einöde liegt er. Da nähert sich ein Wolf dem Schwerverletzten, der sich als Motiv der Bedrohung für die Menschen immer wieder durch die Geschichte zieht. Derweil ist im Dorf nichts mehr, wie es war.


Der erst zwanzigjährige Schauspieler Adriano Tardiolo gibt in Glücklich wie Lazzaro sein Debüt. Er verleiht der Figur eine Würde, die in ihrer Tiefe einer Natursensation gleicht – noch Tage nach dem Kinobesuch wirkt sein Spiel nach, als wäre es keins, als gäbe es ihn tatsächlich, diesen glücklichen Lazzaro. Sein Gesicht nimmt man aus dem Kino mit, wie er selbst das Orgelspiel aus der Kirche: die wachen, geduldigen Augen, die den Geist des Guten widerspiegeln, der zärtliche Mund, der stets ja sagt, er besitzt die Anmutung formgewordener Unschuld – Tardiolo lässt die Zuschauer*innen keine Sekunde an der Aura des Unberührbaren zweifeln.


Neben ihm erstrahlt Luca Chicovani als junger Tancredi, ein großartiger Gegenpol, dessen von sich selbst eingenommene schnittige Körperlichkeit einen gelungenen Figurenkontrast zum Protagonisten bildet. Vom einen fühlt man sich abgestoßen, vom anderen in seinen Bann gezogen. In diese Reihe fügt sich Alba Rohrwacher als ältere Antonia, die von Beginn an einen anderen Umgang mit Lazzaro pflegt als alle anderen. Sie überzeugt als Personifizierung der Liebe, und auch ihr wohnt eine besondere Form der Zerbrechlichkeit in der Darstellung inne, die man stets ohne jeden Zweifel als Stärke zu deuten vermag.


Man könnte über jede Rolle, über jeden Schauspieler so weiterschreiben, sie alle sind fantastisch geschrieben und besetzt, aber die Exzellenz der Montage von Nelly Quettier und Hélène Louvarts Bildkraft, durchgängig stark in allen gegensätzlichen Szenerien von Land bis Stadt, darf nicht unerwähnt bleiben.


Das Sounddesign in Glücklich wie Lazzaro sucht seinesgleichen. Während auf Inviolata das laute Grillenzirpen und der starke Wind dominieren, weicht die Schönheit des Natursounds im zweiten Teil einem blechernen, grellen Tröten, das sich nach und nach in konstanten Auto- und Bahnverkehrslärm verwandelt; ab und an durchbrochen von einem immer wiederkehrenden, beruhigenden, die Trostlosigkeit der Stadtkulisse durchbrechenden Klavierspiel. Sind es die Klänge aus dem Inneren von Lazzaro?

Längst sind die Farben erblasst, wie Erinnerungsfetzen an einen vergangenen Sommer, doch man erahnt ihre ehemalige Leuchtkraft. Wenn die Sonne scheint, erblühen sie und erwachen zum Leben, doch in der Gnadenlosigkeit des Urbanen wirken sie fahler als zuvor. Das Licht des Winters, die Realität der Stadt, die eigentlich Freiheit bedeuten sollte, lässt nichts und niemanden mehr leuchten. Auch die Befehle, “sammel den Müll ein und verbrenne ihn”, fügen sich wie alte Bekannte in neuer Umgebung ein in den Sound eines Lebens, das in eine andere Form von Sklaverei gemündet ist.


Alice Rohrwacher ist es gelungen, ein modernes Experimentalmärchen zu erschaffen. Es lebt – neben der nahezu alles einnehmenden Magie ihrer Hauptfigur Lazzaro – von einer atemberaubenden Collage aus vergangenen Zeiten, einem undefinierbaren Stilmix aus alt und neu, grobkörnigen Landschaften, Geräuschen, seelenberaubten Stadtkulissen, Unterdrückung, Befreiung, Liebe und Enttäuschung. Erschreckend zeitgemäß erscheint ihre Skizze des zunächst altertümlich wirkenden Feudalsystems der Marquesa de Luna, die ihre Gefolgschaft als Leibeigene unterdrückt, vor dem Hintergrund der ausgebeuteten und missbrauchten Erntehelferinnen Europas.


Im Film sind es Tabakplantagen, in der Realität zum Beispiel Andalusiens Gemüse- und Obstplantagen, auf denen Frauen unter menschenunwürdigen Bedingungen für sechs Euro am Tag bei 40 Grad schuften, ohne dass am Ende der Schicht eine Dusche selbstverständlich wäre. Auch solche Aspekte darf man bedenken, wenn man sich, beseelt von einem Film wie Glücklich wie Lazzaro, inspiriert am nächsten Tag in den Supermarkt begibt, und dort die Wahl hat zwischen regionaler Saisonware und frischen Erdbeeren aus Spanien. Denn anders als im Film, wo die Polizei bis in die Schlussszene als Freundin und Helferin der Unterdrückten agiert, schaut sie in der Region Huelva in Andalusien weg und ermöglicht damit eine Form moderner Landwirtschaftssklaverei, deren Früchte bis auf unsere Teller reichen.


Zu sehen ist Glücklich wie Lazzaro auf YouTube, Google und Amazon.