Die Soziologin über den Trend, Persönliches zur Allgemeingültigkeit zu erheben - und die Verharmlosung von männlicher Gewalt.
"Wiener Zeitung": Frau Wiesböck, in Ihrem Buch "In besserer Gesellschaft" beschreiben Sie, dass wir oft selbstgerecht auf andere Menschen herabschauen. Hat sich das durch die Corona-Krise verstärkt oder sind wir solidarischer?
Laura Wiesböck: Interessant war der Diskurs rund um den Begriff der Solidarität. Im ersten Lockdown galt es bereits als solidarisch, wenn man die Nachbarin fragt, wie es ihr geht. Solidarität bedeutet eine Verbundenheit trotz Differenzen, wenn man sich etwa in unterschiedlichen Lebenslagen befindet und trotzdem gleiche Interessen und Ziele hat. Das kann zum Beispiel sein, dass man sich für eine Gesellschaft engagiert, in der Armutsrisiken reduziert werden, auch wenn man selbst nicht von Armut betroffen ist. Die Corona-Krise bietet die Chance, Verbundenheit zu erkennen: Mein Leid ist nicht unabhängig vom Leid der anderen. Andererseits sind wir mit einer Arbeitsmarkt- und Wirtschaftskrise konfrontiert, die eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt darstellen kann. Finanzielle Notlagen und Mehrfachbelastungen führen zu einem Mangel an Zeit, Geld und Energie, sich solidarisch zu engagieren. Die eigenen existenziellen Bedürfnisse stehen im Vordergrund.
Ist dieser Reflex verständlich?Natürlich. Problematisch ist vor allem die Bereitschaft politischer Eliten, Gruppen gegeneinander auszuspielen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit wird nicht nur durch die Risiken und Auswirkungen der Pandemie selbst beeinflusst, sondern auch durch das politische Management. Wir erinnern uns an die Sündenbockrhetorik der "Corona-Einschleppungen aus dem Balkan". Darüber hinaus ist eine Art Betroffenheitskonkurrenz zu beobachten. Zum Beispiel wenn ältere Personen fragen: Warum geht es so viel um die Belastungen von Jugendlichen? Warum wird stattdessen nicht über uns gesprochen? Hier wird kein Nebeneinander von Problemlagen verhandelt, sondern ein Gegeneinander.
Es wurde viel an die Eigenverantwortung appelliert. Was ist mit jenen, die sich gar nicht schützen können, weil sie beispielsweise einen Arbeitsplatz haben, an dem das nicht geht?
2018 erschien Laura Wiesböcks Sachbuch "In besserer Gesellschaft" im Verlag Kremayr & Scheriau.Die Verlagerung der Verantwortung von Risiken auf Individuen ist ein typisches Merkmal von neoliberalen Gesellschaften. Eigenverantwortung spielt bei der Virusverbreitung natürlich eine wichtige Rolle. Nur die Voraussetzungen dafür sind sehr unterschiedlich. Wenn ich an der Supermarktkassa arbeite und Kinder habe, die in der Zeit in Betreuung sein müssen, dann kann ich mich schlechter schützen, als wenn ich allein wohne und im Homeoffice sitze. Oder denken wir an Beschäftigte, die eigentlich auch im Homeoffice arbeiten könnten, aber im Großraumbüro sein müssen, weil es vom Arbeitgeber gefordert wird. Hier gäbe es politischen Spielraum, Risiken einzudämmen. In Österreich gibt es nach einem Jahr Pandemie keine Homeoffice-Pflicht. Eigenverantwortung allein reicht oft nicht aus, um sich zu schützen.
Sozialwissenschaft und Literatur entdecken gerade die soziale Klasse neu. Freuen Sie sich über die aktuelle Debatte über "Klassismus"?
Die Stigmatisierung und Ausbeutung von Armutsbetroffenen ist ein systemimmanentes Problem im Kapitalismus. Wichtig ist, dass man Klassismus zusammen mit anderen Unterdrückungsformen denkt, wie Sexismus und Rassismus. Die Bilder von Arbeitern, an die wir uns in der sozialdemokratischen Ära gewöhnt haben, stimmen heute nicht mehr. Sowohl in der Gastronomie als auch im Handel sind in Österreich deutlich mehr als die Hälfte der Beschäftigten weiblich. Darüber hinaus besteht die Arbeiterschaft heute vielfach aus Migrantinnen oder Pendlern aus benachbarten Ländern, denken wir an die Bauwirtschaft, den Handel, die Pflege, die Textilreinigung und Dienstleistungen wie Paketzustellung, Essens-Lieferservice oder Kosmetik.
Die Sehnsucht nach einer starken Führerfigur gab es hingegen auch schon vor der Corona-Krise. Wie könnte sich das weiterentwickeln?
Wirtschaftskrisen bieten einen Nährboden für die Verbreitung von rechten Ideologien. Das zeigt sich auch bei sogenannten "Protesten gegen die Corona-Maßnahmen". Dort geht es oft nicht um Kritik an den Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, wie sich an Symbolen wie Reichsfahnen oder Schildern zum "Bevölkerungsaustausch" zeigt. Das sind antidemokratische Haltungen, die ernst genommen werden sollten.
Häufig kommt das beschwichtigende Argument, nicht alle Teilnehmer seien ideologisch rechts. Das mag stimmen, ist allerdings kein Anlass zur Beruhigung. Denn diese Teilnehmer schließen bereitwillig Allianzen mit Menschen, die einen Judenstern tragen, auf dem "Ungeimpft" steht. Sie ziehen gemeinsam durch die Stadt mit Menschen, die die Massenvernichtung von Millionen von Menschen mit einer freiwilligen Impfung vergleichen. Hier werden Grenzen des Akzeptablen mit sichtbarem Auge nach rechts verschoben. Aus demokratischer Sicht sollte die Bereitschaft, die Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermords zu tolerieren, Anlass für Alarmismus sein.
Woher kommt die Sehnsucht nach Sündenböcken?
Feindbilder bedienen das Bedürfnis nach grober Vereinfachung, das Bedürfnis, die Welt als eindeutig und steuerbar zu betrachten. Dieses Bedürfnis ist vor allem in Angstmomenten groß. Ungewissheit und Ambivalenz auszuhalten kann anstrengend und unangenehm sein. Leichter ist es zu sagen: Diese Gruppe ist schuld an der Situation. Oder: Diese Person hat eine Haltung, die mich stört, ich möchte mit dieser Person nichts mehr zu tun haben. Das aufgeklärte Leben ist nun aber voller Widersprüchlichkeit, Ambivalenz und Ungewissheit. Das betrifft auch die eigene Person. Es gibt Bereiche der eigenen Persönlichkeit, die anderen - vielleicht sogar einem selbst - widerstreben. Das auszuhalten, ist Teil des aufgeklärten Lebens. Unangenehmes auszublenden und Eindeutigkeit herzustellen, ist der einfachere Weg. Das Prinzip der Eindeutigkeit wird auch medial befördert. Da geht es stark um binäre Kategorien: Ist etwas gut oder schlecht? Homeoffice - Fluch oder Segen? Als Wissenschafterin kann man solche Fragen seriöserweise nicht eindeutig beantworten. In Österreich kommt noch eine historisch verankerte Intellektuellenfeindlichkeit hinzu. Analysen, die Ambivalenz zulassen, werden dann eher als Geschwafel wahrgenommen.
"Menschen bekommen über Social Media auch Zugang zu Informationen, die Massenmedien oder das Bildungssystem nicht bieten" - © Katharina GossowWelche Rolle spielen die sozialen Medien?
Auch hier geht es vielfach um reißerische Überspitzung, Einseitigkeit und Verkürzung. Bei der Entwicklung können soziale Medien einen prägenden Einfluss haben. Wenn das Gehirn von Kindheit an gewohnt ist, viele und schnelle Impulse zu bekommen, gewöhnt es sich an diese Frequenz und braucht diese, um überhaupt Aufmerksamkeit halten zu können. Zusätzlich können die Plattformen zu impulsiven Reaktionen verleiten. Aber ich will nicht kulturpessimistisch argumentieren. Menschen bekommen über Social Media auch Zugang zu Informationen, die Massenmedien oder das Bildungssystem nicht bieten. Oder zu Netzwerken und Kontakten, die im analogen Leben nicht zugänglich wären.
Viele verbringen jetzt noch mehr Zeit in den sozialen Netzwerken, wo es besonders leicht ist, die eigene Meinung immer wieder zu bestätigen.
Die sozialen Netzwerke werden bleiben, dementsprechend wäre es wichtig, einen aufgeklärten Umgang damit im Bildungssystem zu verankern. Da könnte man zum Beispiel lernen, was ein Diskurs ist. Das ist gar nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick scheint. Diskurse forcieren eine bestimmte Vorstellung. Diese Vorstellung hat bestimmte Machtstrukturen und Interessen zur Grundlage und erzeugt diese auch gleichzeitig. Oder man könnte lernen, was kritisches Lesen bedeutet. Fragen zu stellen wie: Von wem wurde dieser Text geschrieben und wann? Welche Quellen werden herangezogen? Sind die Schlussfolgerungen legitim?
Auch die Dialogfähigkeit könnte im Mittelpunkt stehen und der bewusste Fokus auf die Sachebene. Aktuell gibt es die Tendenz bei öffentlichen Diskussionen, eigene Erfahrungen als Argument zu verwenden und die persönliche Geschichte zur Allgemeingültigkeit zu erheben.
Zum Beispiel?
Wenn die Europaministerin zur Diskussion, ob Kreuze in Krankenhäusern hängen sollen oder nicht, sagt, dass sie die erste Ministrantin ihres Heimatorts war und ihre Mutter an einer katholischen Schule unterrichtet hat. Ich war bei einer Podiumsdiskussion, bei der ein Unternehmer erzählte, wie jemand auf der Krebs-Station zu ihm sagte: Du musst unbedingt deine Leidenschaft zum Beruf machen, weil du nie weißt, wie lange du noch zu leben hast. Das Publikum war sehr berührt. Versucht man von der emotionalisierten Personenebene wegzukommen und die Frage zu stellen, ob das nicht ein verkleideter Elitismus ist, den man sich erst einmal leisten können muss, wird man als "kühl", "distanziert" oder "technisch" wahrgenommen.
Warum?
Es wird heute kaum auf der Sachebene gesprochen, die Personenebene steht im Vordergrund. Auch Sachbücher werden zunehmend aus persönlicher Perspektive verfasst, anhand der eigenen Biographie. Die Autorin steht für das gesellschaftliche Problem. Das ist eine gute Möglichkeit, um strukturelle Probleme lebensnah zu vermitteln. Kritik wird dann aber eher als persönlicher Angriff verstanden. Teilweise geht es bis hin zur Debatte, dass man nur darüber sprechen darf, wovon man auch selbst betroffen ist. Und es gibt eine Tendenz, gesellschaftliche Problemlagen überwiegend dann als solche zu erachten, wenn sie mit einem selbst zu tun haben oder haben könnten. Die Frage ist dann: Was bedeutet das für Empathie und Solidarität? In jedem Fall sehe ich die starke Personifizierung sehr kritisch.
Ihr Forschungsschwerpunkt ist soziale Ungleichheit. Welchen Effekt hat die Corona-Krise?
Manche Ungleichheiten haben sich verstärkt, etwa im Bereich Geschlecht. Frauen wurden vielfach entlassen oder haben das Stundenausmaß ihrer bezahlten Lohnarbeit reduziert, um sich der neu entstandenen unbezahlten Care-Arbeit zu widmen. Mütter sind starken Mehrfachbelastungen ausgesetzt, Stichwort Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung. Oder im Bereich ökonomischer Ungleichheit. Es gibt Familien, bei denen die Eltern im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, in der Krise arbeitslos wurden und die Kinder sich ein Zimmer und einen Computer für das Homeschooling teilen müssen. Zusätzlich sind neue Bruchlinien und Ungleichheiten dazugekommen, etwa in der Mittelschicht. So können Wissenschafterinnen im Homeoffice weiterhin unterrichten und publizieren, während Kunst- und Kulturschaffenden vielfach die Existenzgrundlage entzogen wurde. All das sind keine temporären Phänomene, die mit der Pandemie enden. Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise wird uns noch länger begleiten.
Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen selbstgerechte Haltungen im Beruf oder im Privatleben begegnen?
Ich versuche zu verstehen und nicht zu bewerten. Bei emotionalen Impulsen versuche ich, einen Schritt zurückzugehen und mich zu fragen, was dahintersteckt. Wenn Menschen bereit sind, mit dem Finger auf bestimmte Gruppen zu zeigen, stellt sich die Frage: Woher kommt das und welchen Zweck erfüllt das? Wenn zum Beispiel Opfern die Schuld für ihre ungerechte Schädigung gegeben wird, geht es häufig darum, die Illusion der Kontrolle im eigenen Leben herzustellen, sich zu vergewissern, dass man selbst in Sicherheit ist. Das zeigt sich etwa bei Vergewaltigungen: "Selber schuld, wenn sie sich so anzieht." Victim-Blaming dient unter anderem dazu, sich einzureden, man selbst oder die eigene Tochter müsse nur aufpassen und sich anders kleiden, dann werde das nicht passieren. Menschen beschuldigen Opfer häufig, um sich selbst weiterhin sicher fühlen zu können. Es wäre ein zu bedrohlicher Gedanke, erkennen zu müssen, dass einem selbst auch etwas angetan werden kann.
"Männliche Täter bedienen sich der Gewalt nicht, weil sie Temperamentsprobleme haben, sondern als Mittel, um Macht und Kontrolle über Frauen zu gewinnen oder zu behalten. Dafür braucht es keine neue Studie." - © Michael MazohlÖsterreich ist das einzige Land in der EU, in dem mehr Frauen als Männer getötet werden. Woran könnte das liegen und was muss passieren?
Männergewalt stellt ein Sicherheitsproblem in Österreich dar, das permanent verharmlost wird. Das fängt damit an, dass man die Abwertung und Entmenschlichung von Frauen als Witze herabspielt, und geht so weit, dass man Frauenmorde als "Beziehungsdramen" bezeichnet. Auch die Täter-Opfer-Umkehr ist hierzulande ein tiefsitzendes Problem. 2016 stimmte jede vierte Person der Aussage zu: "Gewalt gegen Frauen wird oft durch das Opfer provoziert." Für die Prävention von Männergewalt ist zentral, dass die Expertisen und Forderungen aus dem Bereich Opferschutz, Prozessbegleitung, Soziales, Bildung, Gesundheit und Sozialwissenschaft politisch gehört und berücksichtigt werden. Das ist aktuell nicht der Fall. Und das geht auf Kosten von Frauenleben.
Die Frauenministerin Susanne Raab hat eine Studie über die "unterschiedlichen Motive kultureller Gewalt" angekündigt. Eine gute Idee?
Die vorherrschende Kultur in Österreich trägt dazu bei, dass Männergewalt systematisch stattfindet. Im österreichischen Gesellschaftsmodell ist die ökonomische Gefährdung von Frauen eingebaut. Frauen sollen sich unbezahlt um Haushalt, Kinder, Betreuung, Erziehung und Pflege kümmern, auf Kosten ihrer finanziellen Sicherheit und ihres gesellschaftlichen Einflusses. Tun sie das nicht oder beanspruchen sie dasselbe für sich, werden sie als egoistisch abgewertet. Männer in Machtpositionen, die offenkundig übergriffig gegenüber Frauen sind, werden vielfach von der Branche geschützt. Frauen, die die männlichen Machtstrukturen öffentlichkeitswirksam kritisieren, werden häufig mit Vergewaltigung oder Mord bedroht. In anderen Worten: Wir leben in einer patriarchalen Kultur, die darauf abzielt, ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern herzustellen. Gewalt ist darin fest verankert. Die Täter bedienen sich der Gewalt nicht, weil sie Temperamentsprobleme haben, sondern als Mittel, um Macht und Kontrolle über Frauen zu gewinnen oder zu behalten. Dafür braucht es keine neue Studie, das ist schon lange bekannt. Was es braucht, ist ein politischer Wille zur Gleichstellung.
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