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Psychisch Kranke: Neuer Job dank Neurose - SPIEGEL ONLINE

28. März 2013, 05:39 Uhr Psychisch Kranke Neuer Job dank Neurose

Von Saskia Balke

Psychosen, Panikattacken, Depressionen: So kann man nicht arbeiten. Aber statt für immer arbeitslos zu sein, schaffen es Betroffene, ihre psychische Erkrankung als Vorteil zu begreifen - und schulen um. Ihre Zweitkarriere machen sie dann bei Sozialdiensten oder als Traumatherapeuten.

Die Schwindelattacken überfielen Tanja M. ganz plötzlich. Nicht einmal frische Luft half gegen das diffuse Unwohlsein. Es wurde schlimmer, sie ging zum Internisten - ohne Ergebnis. Tanja M. war Leiterin einer Abteilung mit 150 Mitarbeitern, 60-Stunden-Wochen waren die Regel. Wegen der mysteriösen Krankheit war die damals 35-Jährige nicht arbeitsfähig, ihren Chef vertröstete sie, wochenlang. So lang, bis ihre Karriere in einem Karton verpackt nach Hause geliefert und ihr Dienstwagen abgeholt wurde.

Dass psychische Erkrankungen ein potentieller Karrierekiller sind, liegt auf der Hand. Erst recht, wenn man sich die Zahlen anschaut: Pro Jahr leidet laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts jeder dritte Deutsche an einer psychischen Störung, häufigste Diagnose: Depressionen und Angsterkrankungen.

Aber aus der Abwärtsspirale von Fehlzeiten am Arbeitsplatz bis zur Entlassung finden manche Betroffene auch den Weg in eine neue Karriere: Mit der Erkenntnis, dass die Krankheit nicht nur Last, sondern beruflich von Vorteil sein kann - die persönliche Krise als Qualifikation. Ihre Erfahrung macht sie zu Experten, etwa für die Sozialbranche oder als Berater für andere Betroffene.

Bei Tanja M. sank mit der Entlassung das Selbstwertgefühl zunächst auf einen Tiefpunkt. Die Angst war wieder da. Schon in ihrer Jugend hatte sie wegen Panikattacken jahrelang das Haus nicht verlassen. Heute ist sie wieder in leitender Position tätig - bei einem sozialpsychiatrischen Träger, jedoch in Teilzeit. "Früher habe ich meine psychische Erkrankung vertuscht. Hier darf ich zum ersten Mal offen mit meinem Handicap umgehen", erzählt sie.

Dass sie nun einen Job im Sozialwesen hat, Menschen im Fokus ihrer Arbeit stehen, empfindet die 42-Jährige als Bereicherung: "Aus meiner Erkrankung resultiert ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Ich begegne den Schwächen anderer respektvoll und konzentriere mich darauf, ihre individuellen Stärken gemeinsam weiterzuentwickeln."

Spezielles Training in der Berufs-Reha

Bei Tobias T. fing alles mit einer harmlosen Krankschreibung während seiner Polizei-Ausbildung an. Er ging nicht mehr raus, auch weil ihn im Job nur Mobbing erwartete, bis er schließlich Job und Wohnung verlor. Jahrelang jobbte er herum, war Concierge in Luxushotels, begann eine Ausbildung als Krankenpfleger, war obdachlos. Und versuchte, sich umzubringen. In der Psychiatrie lautete der Befund: "Schwere Depression, kein Selbstwertgefühl".

Dass er heute trotzdem wieder eine Vollzeitstelle hat, verdankt er dem Beruflichen Trainingszentrum BTZ in Hamburg: Die Organisation hilft seit 20 Jahren psychisch Erkrankten, von Patienten wieder zu Arbeitnehmern zu werden - eine Art Berufs-Reha. Die Vermittlungsquote liegt laut Bundesarbeitsgemeinschaft der BTZ bei knapp 60 Prozent. Allein in den 19 Einrichtungen, die zur BAG gehören, durchliefen im Jahr 2011 immerhin 1641 Rehabilitanden das Programm.

Trotz all seiner Lücken im Lebenslauf arbeitet Tobias T. heute ausgerechnet in der Personalabteilung, als Sachbearbeiter in Vollzeit. "Ich überzeugte im Bewerbungsgespräch mit Lebenserfahrung", sagt er.

Anfangs tastete er sich mit sechs Wochenstunden zurück in den Joballtag, betreut von einem pädagogischen Trainer und einer Psychologin des BTZ. Kleinste Fehler brachten ihn aus der Ruhe: "Ich verurteilte mich für meine Unzulänglichkeit", erzählt Tobias T. Aber er hat es geschafft. In fünf Jahren will er eine Stelle als Personalreferent haben.

Neuer Job: Betroffenen-Beraterin

Auch die studierte Wirtschaftsinformatikerin Viktoria L., 35, sieht in ihrem persönlichen Erfahrungsschatz den Schlüssel zu ihrer beruflichen Neuausrichtung. Ihre Diagnose: Psychose und Depression. Ausgelöst vom Tod des Vaters steigerte sich ihre Gläubigkeit zum religiösen Wahn. Sie hörte Stimmen, war überzeugt, hellsichtig zu sein. "Ich wollte in Kontakt mit dem Jenseits treten, sprach plötzlich mit veränderter Stimme", erzählt sie. Mehrfach wurde sie in die Psychiatrie eingewiesen.

Als Viktoria L. jedoch von einer speziellen einjährigen Fortbildung für Betroffene wie sie erfuhr, änderte sich alles: Das Universitätsklinikum Hamburg bildet seit 2011 Menschen mit psychischen Erkrankungen aus - sie können Peer-Berater werden, um so anderen Betroffenen zu helfen. Sie informieren, unterstützen im Alltag, ergänzen so die Arbeit von Psychotherapeuten. Und helfen sich damit selbst.

"In der Arbeit als Peer-Coach stellt die eigene Fragilität kein Hindernis für ein beruflich erfülltes Leben dar", sagt Psychologin und Kursleiterin Gyöngyvér Sielaff. Die Aufgabe wirke hingegen sinnstiftend und selbstheilend.

Die Ausbildung wurde auch für Viktoria L. zur Medizin. Sie arbeitet mittlerweile als eine von 16 Peer-Beratern in Hamburg. Mit dem Verdienst von 400 Euro bessert sie ihre Erwerbsminderungsrente auf.

Und über ihre Krankheit entdeckte sie ihren Traumberuf: Sie studiert derzeit Psychologie. Als Traumatherapeutin sollen nicht nur ihre Erfahrungen, sondern auch ihr Fachwissen zählen.

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