Deniz Günay erlebte das Erdbeben in der Türkei vor Ort. Zurück in Deutschland holte sie ihre Großeltern zu sich nach Bayern. Hier lebt die Familie jetzt unter einem Dach – und kämpft mit der Ungewissheit, wie es weiter geht.
Mit sachtem Klopfen fängt es an. Kurz, dann noch einmal. Deniz Günay wird wach davon. Sie übernachtet mit ihrem Mann und den drei kleinen Kindern in der Wohnung ihrer Schwiegereltern. Es ist dunkel. Ein Blick auf die Uhr: 4:17. Die Uhrzeit, sagt sie später, habe sich für immer in ihr Hirn gebrannt.
Was danach geschieht, dauert nur 90 Sekunden. Ihr sei es vorgekommen wie Stunden, sagt sie. Das gewaltige Scheppern, das plötzlich einsetzt. Ihr Mann, der aus dem Nebenzimmer gerannt kommt. Sie, die panisch aus dem Bett springt, die sechs Monate alte Tochter im Arm. Der Schrank, der kurz darauf auf sie stürzt. Ihr Mann, der die Tür auftritt, weil das Beben den Rahmen verzogen hat. Dann: Das Hasten sechs Stockwerke hinunter, Blicke nach links und rechts, auf Staubwolken, auf Häuser, die wie betrunken schwanken oder in sich zusammensacken. Es ist der 6. Februar 2023, ein gewaltiges Erdbeben erschüttert das Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei.
Mehr als 50.000 Menschen verlieren dabei ihr Leben, mehr als 100.000 werden verletzt. In deutschen Medien wird das Thema bald von anderen Ereignissen verdrängt. Doch was ist mit denen, die das nicht können? Die das Beben zwar überstanden haben, jetzt aber mit dem Schock leben müssen?
Anderthalb Monate später: Deniz Günay, 31, ganz in schwarz gekleidet, die Haare zum Zopf gebunden, ernster Blick, sitzt auf der Eckcouch in ihrem Wohnzimmer, wechselt die Windeln ihrer Tochter. „Ich danke Gott tausendmal, dass wir da lebend rausgekommen sind“, sagt sie. Sie klingt immer noch ungläubig, wenn sie im Dialekt ihrer fränkischen Heimat über das Beben spricht. Günay ist geboren und aufgewachsen in Gunzenhausen, einem Städtchen 60 Kilometer vor Nürnberg: viel Fachwerk, viel Grün. Sie bewohnt mit Mann, Kindern und ihren Eltern, die schon als Teenager nach Deutschland kamen, ein dreistöckiges Haus etwas außerhalb.
Sie alle waren auf Urlaub in Antakya, wo ihre Großeltern lebten. Nachdem das Beben die Wohnung der alten Leute zerstört hatte, entschlossen sich Günay und ihre Eltern die beiden zu sich nach Deutschland zu holen. Vor einer Woche kamen sie an. Die Familie hat ein Kinderzimmer für sie freigeräumt, einen Schrank und zwei Betten hineingestellt.
Vier Generationen leben jetzt unter einem Dach: Die Großmutter, Hikmiye, 76, schält im Wohnzimmer Spargel. Der Großvater, Vahit, 78, liegt auf dem Lehnsessel am Fenster, schaut in den Garten. Günays Mutter bereitet in der Küche das Essen vor. Ihr Vater wiegt ihre kleine Tochter in den Schlaf: Ein idyllisches Familienleben. Und doch: Die Anspannung ist greifbar.
Die Mutter, Yildiz, 54, bunte Bluse und offenes Haar, eine zugewandte, freundlich lächelnde Hausfrau sagt: „Sobald etwas runter fällt, bekomme ich Herzrasen. Dann denke ich, es fängt wieder an.“
Der Vater, Semsettin, 64, breite Brille und Schiebermütze, ein rastloser ehemaliger Barbesitzer im Vorruhestand, schüttelt einen Becher mit Löffeln darin. „So hat das gewackelt“, sagt er. Er und seine Frau haben das Beben in der Wohnung der Großeltern erlebt. Gläser, Tische, Schränke, alles umgestürzt, Lärm, so laut, man habe nicht mitbekommen, wie das Stockwerk unter ihnen zusammengekracht sei. Sie flüchten ins Treppenhaus. Er klettert aus einem Fenster aufs Vordach, hilft den Großeltern hinaus.
Deniz Günay wirkt auf den ersten Blick abgeklärt. Ein „Arbeitstier“, wie sie selbst sagt. Sie kümmert sich um Haushalt, die drei Kinder, hat die Übersiedlung der Großeltern organisiert. Doch auch sie hat das Beben gezeichnet. „Ich schaue mir jeden Abend Fotos aus der Türkei an – und kann nicht aufhören zu weinen“, sagt sie. Am schlimmsten habe es ihren vierjährigen Sohn erwischt. Seit dem Beben nässe er nachts ein, wache schreiend auf, stelle immer dieselben Fragen: „Mama, hauen die Männer mit den Hämmern wieder auf die Häuser?“ Er habe Leichen gesehen, sagt Günay. Er fragt: „Mama, schlafen die Menschen wieder auf der Straße?“
Die Bundesregierung hatte wenige Tage nach dem Beben versprochen, dass Menschen aus den betroffenen Gebieten unkompliziert zu nahen Verwandten nach Deutschland kommen können, mit einem vereinfachten Visaverfahren. Über 4.500 Visa für Betroffene wurden bis Mitte März ausgestellt. Spricht man Deniz Günay auf das Verfahren an, hebt sie die Stimme. Eine kaum gebändigte Wut bricht durch, wenn sie aufzählt, was man alles von ihr verlangt hat: Eine Verpflichtungserklärung, eine Bescheinigung des Steuerberaters, ein Krankenversicherungsnachweis für sich und die Besucher.
„Und das ist nur die deutsche Seite“, sagt sie. „Die türkische Seite war das Hauptproblem“. Die Behörden forderten von den Großeltern einen gültigen Pass. Doch der lag unter Trümmern. Sie mussten einen neuen beantragen. Außerdem den Nachweis, dass die Großeltern mit Günay verwandt sind. Sie mussten bestätigen, dass sie in dem Haus leben und zur Zeit des Bebens in der Stadt waren. „Das ist doch verrückt“, sagt Günay. „Diese Menschen haben alles verloren. Das kostet doch alles Zeit und Nerven.“ Sie habe das meiste von Deutschland aus organisiert. Für den Wohnsitznachweis habe sie Urlaubsfotos ausgedruckt. Die Behörden in der Türkei haben Scans nicht akzeptiert. Sie musste alle Dokumente per Post senden.
Hinzu kam, dass die deutsche Ausländerbehörde eine Krankenversicherung für beide Großeltern über drei Monate forderte, für insgesamt 2.100 Euro. Und sie musste eine Bürgschaft über 1.600 Euro pro Monat für Essen, Trinken und Wohnen der beiden leisten.
„Wir können das stemmen“, sagt sie. „Aber es gibt viele, die können das nicht.“ Beispielsweise eine Bekannte, gelernte Friseurin. Der Mann arbeitet in einem Döner-Imbiss. Sie würden gern seine Eltern holen. „Aber sie kriegen es finanziell nicht hin“, sagt Günay.
Sie und ihre Verwandten hatten nach drei Wochen alle Unterlagen beisammen, sammelten im Freundes- und Bekanntenkreis Spenden für ein Flugticket. Am 13. März kamen die Großeltern am Nürnberger Flughafen an. „Ein voller Erfolg“, sagt Deniz Günay. „Aber jetzt sitzen die Beiden hier und fragen sich jeden Tag, wie‘s weitergeht.“
Der Großvater ist inzwischen aus dem Sessel aufgestanden, schlurft in Pantoffeln im Wohnzimmer umher. Die Großmutter ist fertig mit Schälen, lehnt sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie sind schweigsam, in sich gekehrt. Je mehr Zeit man im Haus verbringt, desto mehr fällt auf, wie verloren sie sind. Nur, wenn sie sich mit ihren Urenkeln beschäftigen, blühen sie kurz auf.
„In der Heimat hatten sie einen großen Bekanntenkreis“, sagt Deniz Günay. Freunde, Verwandte, Nachbarn. Man traf sich täglich auf der Straße. Hier kennen sie außer der Familie niemanden. Sie würden jeden Tag mit Verwandten telefonieren. Meist gehe es darum, wer gestorben ist.
Die Mutter geht mit der Großmutter einkaufen. Der Vater nimmt den Großvater mitunter mit in seine alte Bar. „So normal wie möglich“ solle der Alltag sein, sagt Günay. „Wir wollen nicht, dass sie denken, sie fallen uns zur Last.“
Die Großeltern sprechen kein Deutsch. Will man sie etwas persönlich fragen, muss man Günay bitten, zu übersetzen.
Fragt man die Großmutter, wie sie ihre Tage hier verbringt, sagt sie: „Wir sitzen, trinken Kaffee, essen. Dann setzen wir uns wieder hin.“ Und schiebt hinterher: „Da ist ein Drücken in meinem Herzen, das geht nicht mehr weg.“ Sie vermisse ihre tote Schwester, ihre Nachbarn, ihr Haus. Sie macht eine Wischbewegung mit beiden Händen. „Alles weg.“
Deniz Günay reicht der Großmutter das Handy. Eine Tante aus der Türkei ist dran. Sie hat eine Firma gefunden, die die Wohnung der Großeltern in Antakya ausräumt. Auf dem Display ein Mann, der einen Kühlschrank aus dem Fenster hievt.
Die Großmutter richtet sich auf, ruft aufgeregt ins Telefon: „Schaut, was ihr noch rausholen könnt.“ Der Großvater weint, die Mutter nimmt ihn in den Arm. Auch Deniz Günay steigen Tränen in die Augen.
Es ist das Haus, in dem die Großeltern ihr Leben verbracht haben. Jetzt ist nicht einmal klar, was mit ihren Sachen geschieht. Sie sind nicht gegen Erdbebenschäden versichert, bekommen nur eine kleine Rente. Das Haus wird abgerissen.
Mittagszeit. Es ist angerichtet. Hähnchenschnitzel, eine Schüssel mit Kısır, türkischem Bulgursalat. Als Spargel herumgereicht wird, passt der Großvater. „Kennt er nicht, mag er nicht“, sagt der Vater.
Es ist offen, wie es für die Familie weitergeht. Das Visum der Großeltern ist auf etwas über drei Monate beschränkt, es endet am 20.Juni. Ändern sich die Vorschriften nicht, schickt man sie dann in die Heimat zurück. Die Mutter sagt: „Es ist schön, dass wir jetzt alle unter einem Dach leben. Aber ich kann es nicht genießen. Zu groß ist die Angst, dass sie zurückmüssen.“
Die Großmutter sagt: „Ich vermisse meine Heimat, aber ich fühle mich nicht mehr sicher dort. Wenn wir dürfen, möchten wir hierbleiben.“
Deniz Günay sagt: „Man kann sie doch nicht zurückschicken. Sie haben nichts mehr.“ Das Visaverfahren in seiner jetzigen Form hält sie für eine Fehlkonstruktion. „Der deutsche Staat ist da kopflos vorgeprescht.“
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, man habe das Visaverfahren in Abstimmung mit dem Innenministerium soweit vereinfacht, „wie der bestehende Rechtsrahmen es zulässt“. Die maximale Aufenthaltsdauer sei durch das Schengenrecht vorgegeben, könne nicht „einseitig durch Deutschland erweitert werden“. Das Innenministerium schreibt, es gehe darum, Hilfe zu ermöglichen, zugleich aber darauf zu achten, dass es nicht zu einer „weiteren Belastung der Länder kommt“. Und weiter: „Nach hiesiger Bewertung handelt es sich dabei um einen sachgerechten Ausgleich der unterschiedlichen Interessen.“