Die Bundesregierung hat ein beschleunigtes Visa-Verfahren für vom Erdbeben betroffene türkische Staatsbürger beschlossen. Doch das Verfahren funktioniert nicht, sagt die Berlinerin Ayten Doğan. Sie versucht, ihre Cousine aus der Türkei nach Deutschland zu holen. Und scheitert an der Bürokratie in beiden Ländern.
Frau Doğan, Ihre Familie stammt ursprünglich aus der Türkei. Wie viele Ihrer Angehörigen sind vom Beben und den Auswirkungen betroffen?
Der Großteil meiner Familie lebt inzwischen in Europa. Von denen, die noch in der Türkei sind, betrifft es vor allem Verwandte in der Provinz Kahramanmaraş, in Elbistan, der Stadt, in der ich geboren wurde und in der ich zur Schule gegangen bin, bevor ich nach Deutschland kam. Dort leben Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins von mir.
Wo sind sie jetzt untergebracht?
Einige sind bei ihren Kindern in Istanbul untergekommen, andere in Ferienhäusern der Familie. Viele leben aber auch in provisorischen Zeltlagern oder Turnhallen. Niemand kann sagen, für wie lange.
Wie oft haben Sie Kontakt mit ihnen?
Anfangs täglich, inzwischen jeden zweiten Tag. Wir schreiben uns vor allem über WhatsApp. Meine Verwandten sind sehr unterschiedlich betroffen. Einige haben ihre kompletten Häuser oder Wohnungen verloren. Bei anderen steht das Haus noch. Aber auch sie sind traumatisiert. Weil sie fürchten, dass es ein weiteres Beben geben wird. Das war für viele der größte Schock: Sie hatten das erste Beben überstanden, wähnten sich in Sicherheit. Dann kam ein zweites Beben. Dabei sind auch Angehörige meiner Verwandten gestorben. Der Mann einer Tante etwa hat drei Schwestern verloren.
Wie gehen Ihre Angehörigen mit der Situation um?
Anfangs hatten sie ein Schichtsystem beim Schlafen. Während die anderen schliefen, hielt einer zwei Stunden Wache – damit er oder sie die anderen wecken konnte, falls es ein neues Beben gibt. Inzwischen machen sie das seltener, die Angst aber ist geblieben. Und die Trauer. Sie alle haben plötzlich kein normales Leben mehr. Keine Arbeit, keine Schule, nichts ist geblieben. Viele von ihnen haben Menschen verloren: Angehörige, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen.
Wie gehen Sie selbst mit der Situation um?
Ich konnte mir die Bilder aus der Region anfangs nicht ansehen, weil es mich zu sehr erschüttert hat. Ich musste funktionieren. Das Beben war wenige Tage vor der Berliner Wahl. Ich habe den Wahlkampf eines Landtagsabgeordneten geleitet, habe selbst für das Bezirksparlament kandidiert. Da hätte ich nicht einfach ausfallen können. Anfangs wurden einige meiner Angehörigen vermisst, das hat mich besonders mitgenommen. Erst als klar war, dass sie leben und gesund sind, kam ich etwas zur Ruhe. Inzwischen fühle ich vor allem Ohnmacht. Ich habe das Gefühl, nicht wirklich helfen zu können.
Die Bundesregierung hat ein beschleunigtes Visa-Verfahren für türkische Staatsbürger aus dem Erdbebengebiet beschlossen. Die Präsidentin des baden-württembergischen Landtags Muhterem Aras nannte es allerdings „praktisch nicht umsetzbar“, ist das auch Ihre Erfahrung?
Die bürokratischen Hürden sind zu hoch. Man braucht beispielsweise einen Termin beim zuständigen Landesamt für Einwanderung, um alle notwendigen Dokumente abzugeben. Der erste Termin, der mir angeboten wurde, war Ende April. Der Berliner Senat hat zwar 100 weitere Termine freigegeben, aber auch da war ich nicht dabei.
Wen wollen Sie nach Deutschland holen?
Meine Cousine, 18 Jahre alt, ihr Pass liegt unter den Trümmern. Der Rest der Familie, also mein Onkel, seine Frau und der minderjährige Sohn, haben alle Unterlagen, um nach Deutschland zu reisen. Nur sie nicht.
Das beschleunigte Verfahren gilt nur für Angehörige ersten und zweiten Grades. Ihre Cousine wäre bei dieser Gruppe also nicht dabei. Werden Sie den Amts-Termin Ende April trotzdem wahrnehmen?
Ja. Weil ich hoffe, dass sich bis dahin politisch etwas bewegt. Meiner Meinung nach ist diese Einschränkung auf Angehörige ersten und zweiten Grades nämlich falsch. Man muss dazu sagen: Wir haben früher ja auch Angehörige aus der Türkei zu uns holen können, damit sie uns besuchen kommen, darunter auch Cousinen und Cousins.
Die Gastgeber bürgen für alle Kosten des Gastes, also Wohn- und Lebenskosten. Können Sie sagen, wie hoch die Summe ist, die sie dabei vorweisen müssen?
Dazu gibt es Tabellen bei den Ämtern. Die genaue Höhe ist gestaffelt, je nachdem wie viele Menschen man aufnehmen möchte. Bei einer volljährigen Person muss man in Berlin ein Nettoeinkommen von 1.265 Euro vorweisen. Bei jeder weiteren erwachsenen Person erhöht sich die Summe um 333 Euro.
Die Organisation PRO ASYL kritisiert, dass beispielsweise die Kosten für eine medizinische Versorgung sehr hoch werden können. Was bedeutet das für Sie?
Ich persönlich könnte die Kosten finanziell stemmen, aber gesellschaftlich ist das natürlich absolut unfair. Man muss sich auch vor Augen führen: Wir sprechen bei den Visa-Erleichterungen derzeit über türkische Staatsbürger, die Verwandte in Deutschland haben, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Außen vor bleiben türkische Staatsbürger, die keine engen Verwandten hier haben oder deren Verwandte finanziell nicht so gut aufgestellt sind. Und das Beben betrifft ja nicht nur türkische Staatsbürger. Was ist mit den Syrerinnen und Syrern? Für die gibt es keine Erleichterungen. Auch nicht für Erdbebenopfer, die keine türkische Staatsbürgerschaft haben, Geflüchtete zum Beispiel. Wir sprechen bei den Visa-Erleichterungen also über eine sehr privilegierte Gruppe.
Vor welchen Hürden stehen die Menschen, die nach Deutschland kommen wollen?
Das ist von Region zu Region verschieden, die Infrastruktur ist ja unterschiedlich stark betroffen. Wie soll man in einer Provinz wie Hatay, in der fast alles zerstört ist, unter den Trümmern seinen Pass finden? Oder einen neuen beantragen? Zumal man dafür ein biometrisches Foto braucht. Die Menschen müssen Begründungen schreiben, warum sie nach Deutschland wollen, und nachweisen, dass sie mit den Antragstellern dort verwandt sind. Das ist viel zu bürokratisch.
Wie nehmen Ihre Verwandten das wahr?
Sie können es nicht verstehen. Sie waren schon oft in Deutschland zu Besuch. Jetzt sind sie in einer Notsituation, haben einen sicheren Ort, an den sie könnten. Und dann kommen sie nicht rein. Das ist hart für sie.
Bis Anfang vergangener Woche hatte das Auswärtige Amt 96 Visa im beschleunigten Verfahren erteilt.
Ich kenne niemanden, der einen Termin beim Amt bekommen hat. Es läuft sehr zäh, in beiden Ländern. Die Menschen in Berlin kämpfen um einen Termin, die in der Türkei darum, ihren Pass zu finden oder einen neuen zu beantragen.
Dabei gibt es Vorschläge, das Prozedere zu vereinfachen. Muhterem Aras etwa regte an, statt Reisepässen auch Personalausweise zu akzeptieren, die lassen sich schneller ausstellen. Pro Asyl schlägt vor, alle Antragsdaten und Dokumente in Deutschland beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu sammeln und die Personendaten an die Bundespolizei weiterzugeben. Die Beamten könnten die Visa dann direkt bei der Einreise der Personen ausstellen. Sind das aus Ihrer Sicht gute Ideen?
Ja. Der Ansatz ist richtig, die Anforderungen in den Krisengebieten zu minimieren. Allein, mir scheint, es fehlt der Wille. Das hat auch mit dem gesellschaftlichen Klima zu tun. Es gibt Stimmen in Deutschland, die fürchten, dass bei weiteren Erleichterungen zu viele Menschen aus der Türkei nach Deutschland kommen, der Sozialstaat überlastet wird.
Zu Recht?
Nein, die Gefahr besteht nicht. Die Menschen drängen auch nicht auf den Arbeits- oder Wohnungsmarkt. Sie wären bei Verwandten untergebracht, die für sie bürgen. Und das nur für drei Monate, länger gilt das Visum nicht. Es wäre für die Menschen eine Chance, zur Ruhe zu kommen. Mehr nicht.
Wo würden Sie Ihre Cousine und ihre Familie unterbringen?
In meiner Wohnung. Ich würde dann zu meiner Schwester ziehen. Das wäre natürlich eine Umstellung: die eigene Wohnung aufgeben, wieder in einer WG leben, Verantwortung für vier Menschen übernehmen, die hier fremd sind, die Sprache nicht sprechen. Aber all das ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen in der Türkei durchmachen. Daher würde ich diese Verantwortung sehr gern auf mich nehmen.
Ayten Doğan, 42, ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im öffentlichen Dienst. Sie wurde in der Türkei geboren, kam 1990 nach Deutschland. Sie lebte zunächst im Schwarzwald, seit 2012 lebt sie in Berlin. Für die SPD saß sie in der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg, dem Bezirksparlament, verpasste bei der Wahl im Februar aber den Wiedereinzug.