Die Al-Nur-Moschee in Neukölln gilt als Treffpunkt radikaler Islamisten. In den Predigten wurde vermehrt zu Hass und Intoleranz aufgerufen. Wie gefährlich ist dieser Ort?
Es ist Sonntag und in der Al-Nur-Moschee, der vermeintlichen Hochburg der Berliner Salafisten, herrscht zunächst Stimmung wie auf einem Familienfest: Zwei Jungs toben durch die geräumige Halle, ein paar Jugendliche lümmeln auf dem gemusterten Teppich. Am Rand sitzen zwei alte Männer aufPlastikstühlen und plaudern. Der Besucher blickt in offene, freundliche Gesichter. Islamisten, denkt er, sehen anders aus.
Ein Blick nach rechts. Gleich neben dem Eingang hängt ein junger Mann seinen Mantel auf. Er sei zum Islamunterricht hier, erzählt Cem, der eigentlich anders heißt. Seine Eltern, türkische Einwanderer, seien zwar Moslems. Er selbst aber habe erst in der Pubertät begonnen, sich mit seinem Glauben auseinanderzusetzen. Als ihm bewusst wurde, dass er jeden Moment sterben kann. Und in die Hölle kommt, wenn er nicht fromm lebt.
Cem ist glatt rasiert, trägt akkurat geschnittenes Haar, Jeans, Turnschuhe, spricht akzentfreies Deutsch. Ein auffallend höflicher 19-Jähriger. Salafisten, denkt man, sehen anders aus. Er würde nie Christen oder Juden beleidigen, sagt er. Sie selbst, die Moslems, hingegen würden ständig beleidigt. Vor allem von den Medien. Das sehe man nicht zuletzt an der Hetzkampagne gegen diesen Ort hier, die Al-Nur-Moschee in Neukölln.
„Berlins berüchtigtes islamisches Gotteshaus" , „Hass-Moschee" , „Hort von Radikalen" - viel Negatives ist geschrieben worden über die Al-Nur, vieles davon polemisch, tendenziös, nicht sauber recherchiert. Nur, aus der Luft gegriffen waren die Vorwürfe nie: 2003 wurde ein Tunesier festgenommen, der im Verdacht stand, in der Moschee Kämpfer auszubilden und ein Attentat vorzubereiten. 2009 reiste eine Gruppe von Moscheebesuchern in den bewaffneten Dschihad nach Pakistan. Spätestens seit 2010 kam auch Denis Cuspert, der bekannteste Deutsche in den Reihen des IS, regelmäßig hierher.
Inzwischen, so berichten es Insider, seien die wirklich Radikalen weitergezogen: in die As-Sahaba Moschee in Wedding, die Ibrahim al-Khalil-Moschee in Tempelhof oder in eine der kleineren Hinterhofmoscheen der Stadt. Und überhaupt seien nicht die Moscheen und Prediger das Problem, sondern die Besucher, die in den Räumen Rekruten anwerben.
Die Al-Nur-Moschee allerdings, die lange Zeit auch ausländischen Imamen offenstand, geriet immer wieder auch mit Predigten in die Schlagzeilen: 2014 hatte ein Imam aus Dänemark Allah angefleht, er möge alle „zionistischen Juden" töten. 2015 hatte ein Ägypter Frauen das Bestimmungsrecht über ihren Körper abgesprochen. Seitdem wird ein Verbotsverfahren gegen den Moscheeverein geprüft. Der Verfassungsschutz beobachtet die Moschee seit 2009. Wie gefährlich also ist sie?
Der Lehrer betritt den Raum. Mit seinem langen weißen Gewand, dem dichten schwarzen Bart und dem weißen Käppi auf dem Kopf ist Eyad Hadrous der erste hier, der aussieht, wie man es sich vorgestellt hat: wie ein Salafist.
Er setzt sich an einen schmalen Tisch vor der Kanzel. Vor sich eine Flasche Wasser und ein Kaffeebecher. In den Händen ein bedrucktes Blatt Papier, auf dem einige Stellen orange markiert sind. Sein Vortrag. Das Thema: die Sünden und ihre Auswirkungen.
„Viele Menschen denken, sie können sündigen, weil Allah ihnen vergibt", sagt er und lässt seinen strengen Blick über die rund 20 Schüler streifen, die sich an Säulen und Wände gelehnt um ihn versammelt haben. „Aber ist dem wirklich so?"
Was denn die größte Sünde sei, fragt er.
„Schirk", antwortet ein Mann Ende 20.
Hadrous nickt. Schirk, Polytheismus. Die größte Sünde und unverzeihlich. Schlimmer noch als einen Menschen zu töten. Denn diese Sünde, sagt er, vergebe Allah mitunter. Wer aber neben Allah auch Engel, oder, wie die Schiiten, Ali und Hassan anflehe, „der ist kein Muslim".
Die jungen Männer, denen er das erzählt, sehen fast alle aus wie Cem: Teenager oder Mitte 20-Jährige, Kinder von Migranten, rasiert, in Jeans und Turnschuhen. Mit seinen Mitte 30 ist Hadrous jünger als ihre Väter und noch Teil ihrer Lebenswelt. Aber auch alt genug, damit sie auf ihn hören.
„Allah ist nicht nur der Vergebende", mahnt er mit ernster Stimme, „er ist auch streng im Strafen." Wer vier Mal wegen eines Rausches das Gebet verpasse, zitiert er einen Ausspruch des Propheten Mohammed, der bekomme den Körpersaft der Höllenbewohner zu trinken. Immer wieder kommt er in seinem Vortrag auf die Folgen eines lasterhaften Lebens zu sprechen, immer wieder auf die Hölle. Seine Stimme ist dabei klar und fest, hier und da verfällt er ins Schreien.
Am Ende des einstündigen Unterrichts reicht ihm ein Moscheemitarbeiter einen Zettel. Eine Frage der Frauen, die den Unterricht per Videoübertragung aus dem zweiten Stock der Moschee verfolgen. Sie dürfen nicht im Erdgeschoss neben den Männern sitzen, kommen erst nach der Stunde herunter. Für Hadrous ist das ein Problem. Aber ein anderes, als man denken könnte.
„Ich weiß, dass der Moscheevorstand das anders sieht", sagt er an seine Schüler gewandt. „Aber wenn es nach mir ginge, sollten sich die Frauen auch nach der Stunde vom Erdgeschoss fernhalten." Es sei schwer genug, den Blick auf der Straße abwenden zu müssen. In der Moschee habe die Versuchung nichts verloren.
Damit ist der Unterricht beendet.
In seinem Buch „Generation Allah" zählt der Psychologe Ahmad Mansour mehrere Aspekte des Islam auf, die er für bedenklich hält. Mindestens drei davon, ließe sich argumentieren, waren an diesem Sonntag in der Al-Nur-Moschee zu hören: der Rückgriff auf Angstpädagogik, die Abwertung anderer Glaubensrichtungen, die Tabuisierung von Sexualität.
Zwei Tage später. Im Büro des Imam, einem geräumigen Zimmer gleich neben der Gebetsnische, klingt alles gleich viel harmloser. „Wir legen großen Wert darauf, nicht mit der Gesellschaft zu kollidieren", sagt Sheikh Nasser El-Issa und bittet den Besucher, auf einem der weichen Sessel Platz zu nehmen.
El-Issa ist das Gesicht der Al-Nur-Moschee. Während sich der Moscheevorstand im Hintergrund hält, spricht der 45-Jährige mit der Presse, hält Freitagsgebete, gibt Islamunterricht. Der gebürtige Libanese ist groß und stämmig, hat kurzes, krauses Haar, ein Vollbart umrahmt das Gesicht. Er trägt beige Khakis und ein kariertes Hemd. Er ist höflich, wahrt aber Distanz.
El-Issa bezeichnet sich selbst als Salafi, als jemand, der sein Leben streng nach dem Leben des Propheten Mohammed ausrichtet. Und sich an Vorstellungen aus dem 7. Jahrhundert orientiert. Für den Verfassungsschutz ist er damit ein Salafist. Er selbst empfindet seine Auslegung des sunnitischen Islam als „mittelstreng": nicht so radikal wie jene, die Frauen das Autofahren verbieten. Nicht so lasch, wie die, die alles erlauben. Das Treffen zwischen unverheirateten Männern und Frauen hinter verschlossenen Türen etwa ist für ihn haram, verboten.
Wie er das Zusammenleben in Deutschland sehe? Sie, die Muslime, müssten akzeptieren, dass sie in einer nicht-muslimischen Gesellschaft leben, sagt El-Issa. Die Vollverschleierung der Frauen etwa sei in Saudi-Arabien okay, in Deutschland lehne er sie ab. Hier genüge der Hijab. Und gar kein Kopftuch? Der Imam hebt die Hände. Das sei unislamisch und komme nicht infrage. Für nicht-muslimische Frauen, schiebt er hinterher, sei es aber kein Problem. „Ich akzeptiere das."
Terroranschläge im Namen seiner Religion, da wird El-Issa deutlich, lehne er entschieden ab. Das habe nichts mit dem Islam zu tun. Letztlich sollten die Muslime in Europa dankbar sein. „Viele können hier freier leben als in ihrer Heimat, etwa in Ägypten."
Einsilbiger wird er allerdings, als es um die Inhalte der Predigten geht. Einen Zusammenhang mit der Radikalisierung junger Menschen sieht er nicht. Die meisten Fanatiker, sagt El-Issa, würden sich in Hinterzimmern radikalisieren, nicht in Moscheen. „Und wenn, dann würden sie sich keine Moschee wie die Al-Nur aussuchen, die sich offen gegen den IS und Terror ausspricht."
Aber was ist mit den Moscheebesuchern, die sich in der Vergangenheit tatsächlich radikalisiert haben? Er könne den tausend Menschen, die wöchentlich zum Freitagsgebet kommen, nicht in den Kopf schauen, sagt El-Issa.
Ob sich bereits Besucher mit radikalem Gedankengut an ihn gewandt hätten? El-Issa verneint. Ob die Moschee Präventionsarbeit betreibe? Das Thema interessiere in der Moschee gar keinen. Ob er als Gemeindevorsteher denn keine Verantwortung sieht für Menschen wie Denis Cuspert? Der habe nicht in seinem Unterricht gesessen. „Außerdem", sagt El-Issa, „ist jeder für sich selbst verantwortlich."
Dann muss er kurz raus. Zum Mittagsgebet.
Szenenwechsel. Wedding, zwei Wochen später. Abdul Adhim Kamouss sitzt in einem türkischen Café und sagt: „Auch aus meinen Reihen kamen Kämpfer." Er habe sie zwar nicht radikalisiert, sagt der Imam, er fühle aber „indirekt eine Art Verantwortung".
Kamouss war der Star der Al-Nur-Moschee. Bis zu tausend Jugendliche besuchten sonntags seinen Unterricht, auch Denis Cuspert. Im Herbst 2014, kurz nach Kamouss' umstrittenem Auftritt bei Günther Jauch, kam es zum Bruch mit der Moschee. Heute unterrichtet Kamouss, inzwischen 38, unter anderem in der Bilal-Moschee in Wedding.
Der gebürtige Marokkaner erscheint in beiger Khaki und weißem Hemd. Sein Markenzeichen, den Turban, hat er zu Hause gelassen. Er ist offen und freundlich. Spricht ruhig und überlegt, viel gelassener als in seinen Predigten.
Auch Kamouss sagt, dass die Radikalisierung nicht in Moscheen, sondern in Hinterzimmern und im Netz stattfinde. Traditionelle Moschee-Predigten aber - und da liegt der Unterschied - die nur Angst vor dem Tod, Sünde und absoluten Gehorsam gegenüber einem strafenden Gott thematisieren, könnten dennoch auf den falschen Weg führen. Wenn sie den Alltag außer Acht lassen. Einmal auf Linie gebracht, würden die Jugendlichen nach radikaleren Predigern suchen. „Und die finden sie im Netz, wo mitunter offen zum Extremismus aufgerufen wird."
Der Verfassungsschutz zählt auch Kamouss zu den Salafisten, erwähnte ihn in seinen Berichten. Er selbst sagt, er habe in seinem Unterricht nie Hass oder Ausgrenzung propagiert. Aber auch er habe lange „an der Realität vorbei gepredigt", indem er nur die Beziehung zu Allah thematisierte, nicht die Beziehungen der Menschen untereinander. Er sei damit „indirekt eine Brücke" gewesen zu radikaleren Predigern, zu denen einige wenige Schüler dann überliefen.
Beispiel Denis Cuspert. Der sei, als er in der Al-Nur-Moschee auftauchte, ein normaler, auf Abwege geratener Moslem gewesen. Ein aufmerksamer Zuhörer, der sogar mit seinen Eheproblemen zu Kamouss kam.
Nach drei Monaten sei Cuspert aus dem Unterricht verschwunden, habe sich radikaleren Kreisen angeschlossen. Das nächste, das Kamouss von ihm sah, waren die Drohvideos, die 2011 im Internet erschienen. Zwei lange Telefonate habe er mit Cuspert geführt. Zwei Mal habe er versucht, ihn von seinem Weg abzubringen. Beim dritten Versuch sei niemand mehr ans Telefon gegangen. Cuspert, nimmt Kamouss heute an, war da bereits im Ausland.
Auch heute noch gibt es junge IS-Kämpfer in Syrien, die ihn im Internet kontaktieren. Was er denen sage? „Mach nicht mit. Zieh dich zurück."
Es habe gedauert, aber inzwischen fühlt Abdul Adhim Kamouss ein Stück Verantwortung. Weil er sich unbeabsichtigt zu sehr auf theologische Themen konzentriert habe. „Aber", räumt er ein, „was würde es bringen, wenn ich die alleinige Schuld für hunderte Kämpfer, die meine Predigten gesehen haben, auf mich lade? Das ist nicht gut für mich, würde mich krank machen und bringt niemanden weiter." Er konnte und wusste es in dieser Phase seines Lebens nicht besser, sagt er. Außerdem sei er bei weitem nicht der einzige Prediger, aus dessen Reihen Kämpfer nach Syrien gegangen seien.
Heute geht es in seinen Predigten, die er zum Teil ins Netz stellt, um moderne Themen: die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam, von Homosexualität und Islam, und immer wieder um seinen Wandel. „Die Brücke zum Fanatismus", sagt er, „gibt es bei mir nicht mehr."
Von vielen radikalen Muslimen wird er seitdem angefeindet. Die Nichtmuslime, vor allem die Medien und Sicherheitsbehörden, hingegen hätten seinen Wandel ignoriert, findet er. Für sie trage er noch immer den Stempel „Salafist".
Eines aber muss man Kamouss auf jeden Fall zugestehen: Er engagiert sich gegen Gewalt und Fanatismus. Predigt Toleranz und offenen Austausch. Immer wieder.
Die Frage ist: Tut die nichtmuslimische Gesellschaft das auch ausreichend?
Salafistische Predigten mögen ein Faktor für die Radikalisierung junger Menschen sein. Diskriminierung und der Generalverdacht gegen alle Muslime sind zwei weitere. Auch sie treiben Jugendliche in die Arme der Radikalen. Der Verfassungsschutz spricht von bundesweit 8.650 Salafisten. In einem Land mit etwa vier Millionen Muslimen.
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