Nach Großbritannien kann sie nicht mehr reisen.
Das würde nicht gut gehen, sagt Dale Carr. Die Engländerin sitzt in ihrem Laden "Broken English" in Berlin-Charlottenburg, draußen weht die Flagge des Vereinigten Königreichs im Wind. Fast zwei Monate nach dem Brexit-Referendum ist Carr immer noch wütend. "Würde ich in Großbritannien auch nur eine Person treffen, die für den Brexit gestimmt hat, ich könnte für nichts garantieren", sagt sie nur leicht gespielt und blickt mit grimmiger Miene auf die winkende Figur von Queen Elizabeth II. im Regal.
Die 64-Jährige ist eine von rund 106.000 Briten in Deutschland. Viele von ihnen durften an der Volksabstimmung über den Austritt des Königreichs aus der Europäischen Union nicht teilnehmen, weil sie schon länger als 15 Jahre nicht mehr in ihrem Heimatland leben. So wie Carr, die ursprünglich zu einem Kurzbesuch nach Berlin kam, dort hängenblieb und nun schon seit 38 Jahren in Deutschland wohnt. Was sie jetzt machen wird? Carr lacht sehr laut, setzt ihre Brille ab, auf und wieder ab, beugt sich über ihren verschnörkelten Verkaufstresen voll mit Cadbury-Schokoriegeln und sucht nach den richtigen Worten. "Erstmal beantragen wir alle die deutsche Staatsbürgerschaft", sagt sie schließlich in einem auch nach mehr als drei Jahrzehnten Deutschland immer noch hörbarem Sheffielder Akzent. Mit "wir alle" meint Carr ihre Familie und die meisten ihrer britischen Kunden, die jeden Tag in ihren Laden kommen, um Marmite, Shortbread, Twinings-Tee und Cheddar-Käse zu kaufen.
Damit lägen Carr und ihre Freunde im Trend: In den großen Städten Deutschlands stellen immer mehr Briten einen Einbürgerungsantrag seit die Debatte über den Brexit Anfang des Jahres begann. Allein in Berlin sind es seit Jahresbeginn 230. "Ich gehe davon aus, dass fast alle Anträge auch genehmigt werden", sagt ein Sprecher der Berliner Senatsverwaltung. Wäre das der Fall würden schon im ersten Halbjahr 2016 185 mehr Briten eingebürgert als im gesamten vergangenen Jahr. In Hamburg sehen die Zahlen ähnlich aus und auch in Frankfurt am Main, Düsseldorf, Dortmund, Bremen und Essen gehen deutlich mehr Anträge ein. In Stuttgart wurden seit Jahresbeginn mehr als zehn Mal so viele Einbürgerungsanträge gestellt wie im vergangenen Jahr. Bis die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU abgeschlossen sind, können die Antragsteller noch die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen und gleichzeitig ihre britische behalten. Wie es nach dem Brexit aussehen wird, ist unklar.
"Auch wenn noch niemand einen Plan hat, die Auswirkungen des Brexits werden auf jeden Fall negativ sein", glaubt Carr. Sie ist mittlerweile in ihre Muttersprache gewechselt, auf Englisch könne sie sich besser aufregen. Die Ladenbesitzerin ordert ihr gesamtes Sortiment aus dem Vereinigten Königreich. "Nach dem Brexit werden die Bestellungen komplizierter werden mit mehr Papierkram, den es zu bewältigen gilt." Auch wenn bis jetzt noch nichts passiert sei, die unsicheren Aussichten seienn schlimm genug für viele Kleinunternehmer.
Bei Jason Thackray hat sich die Ungewissheit schon in Zahlen niedergeschlagen. Der britische Expat ist Immobilienmakler. Über sein Unternehmen vermittelt er Berliner Wohnungen von Kunden aus Großbritannien, Australien und den USA an englischsprachige Käufer. Geschätzte 25 Prozent seiner Käufer waren bis jetzt Briten, doch ihr Interesse an einer Berliner Wohnung sinke. "Viele von ihnen überlegen jetzt, ob sie sich wirklich in Deutschland niederlassen", sagt Thackray. Er zieht die gleichen Konsequenzen wie Händlerin Carr. "Ich bewerbe mich auf die deutsche Staatsbürgerschaft wie die meisten meiner britischen Freunde hier", erzählt der Immobilienmakler.
"Der Schaden durch das Referendum ist schon längst entstanden." Diesen Satz wiederholt Thomas Bernatzky immer wieder, langfristige Entscheidungen seien für sein Unternehmen deutlich schwieriger geworden. Der 42-Jährige Deutsche ist Geschäftsführer der Berliner Zweigstelle eines schottischen Architekturbüros mit 38 Mitarbeitern. "Der unbürokratische Austausch von Arbeitskräften ist wichtig für uns", erklärt Bernatzky, der auf ein entsprechendes Abkommen zwischen Großbritannien und der EU hofft. Der Architekt macht sich auch um die Rentenansprüche seiner Mitarbeiter Sorgen, ist Großbritannien erst einmal aus der EU ausgetreten.
Für Bernatzkys Mitarbeiter ist es im Moment noch unkompliziert: Ihre im EU-Ausland erworbenen Rentenansprüche werden in der Sozialversicherung zusammengerechnet, sodass sie keine Versorgungslücken befürchten müssen. "Ist Großbritannien erstmal ausgetreten wird vermutlich das deutsch-britische Sozialversicherungsabkommen Anwendung finden", sagt Omer Dotou, Sozialversicherungsexperte und Rentenberater bei der BDAE Gruppe. Das Abkommen aus dem Jahr 1960 wurde 13 Jahre lang angewandt, bis Großbritannien in die Europäische Gemeinschaft eintrat. Seitdem schlummert das Abkommen vor sich hin, gekündigt wurde es nie. Es ermöglicht es Arbeitnehmern im Rentensystem ihres Heimatlandes zu bleiben, auch während sie für eine bestimmte Zeit in dem anderen Land arbeiten.
Auch Carr kennt die Sorgen um die Rentenansprüche sehr gut. Täglich kommen britische Kunden in ihren Laden, um neben ein paar heimischen Lebensmitteln auch jemanden zum Reden zu finden. Britische Studenten berichten von ihrer Sorge, nach dem Brexit nicht in Deutschland bleiben zu können, andere zweifeln an ihrem Einbürgerungsantrag, weil sie sich im Herzen immer noch britisch fühlen. Gemeinsam ist allen auch fast zwei Monate nach dem Referendum die Wut über die „Pro Brexit"-Wähler, die ihnen die Probleme eingebrockt haben.