Es ist kalt und regnerisch an diesem Donnerstag in Budapest. Trotzdem liegt eine festliche Stimmung in der Luft, es ist Nationalfeiertag. Vor dem Parlament, ein riesiges Menschenmeer. Viele schwenken die ungarische Nationalflagge, recken orangene Schilder mit dem Logo der rechtsnationalen Regierungspartei Fidesz in die Höhe. Sie warten auf Viktor Orbán.
Ein paar hundert Meter weiter sieht es ganz anders aus: Auf der deutlich kleineren Versammlung der rechtsextremen Jobbik will man mit Orbán nichts zu tun haben. „Wir wollen Orbáns Oligarchie nicht mehr“, sagt Sándor entschlossen. Der 29-Jährige ist mit seinen Freunden zu der Kundgebung gekommen. Etwa 1.500 Menschen haben sich auf dem Platz versammelt, die Stimmung wirkt aufgeladen, grimmige Gesichter blicken zur Bühne. Die ersten Parteimitglieder halten Reden, hier und da hört man Beifall oder zustimmende Zwischenrufe. Es gibt zwar einen spürbaren Überhang an jungen Männern, ansonsten ist das Publikum aber gemischt. Auch Kinder und Senioren sind zu sehen – Jobbik ist keine Randpartei mehr. Seit sich die Rechtsextreme moderater gibt, scheint sie ihre Wählerschaft vermehrt aus der Mitte der Gesellschaft zu rekrutieren.
Der Ausgang der Wahl scheint schon im Vorfeld entschieden – Trotzdem ist das Orbán-Regime nervös geworden
Am 8. April finden die ungarischen Parlamentswahlen statt. Derzeit liegt Fidesz in den Umfragen bei bis zu 50%, Jobbik folgt an zweiter Stelle mit etwa 17 %. Der Ausgang der Wahl scheint bereits entschieden. Und doch ist das Orbán-Regime nervös geworden. Bei den vorgezogenen Bürgermeisterwahlen in der ungarischen Stadt Hódmezövásárhely Ende Februar verlor der Fidesz-Kandidat Zoltan Hegedus deutlich, obwohl die Stadt als Hochburg der Regierungspartei galt. Der unabhängige, von der Opposition unterstützte Kandidat Péter Marki-Zay kam auf 57% der Stimmen. Der Grund für den überraschenden Sieg war die sprunghaft angestiegene Wahlbeteiligung. Sämtliche frühere Nichtwähler hatten ihre Stimme der Opposition gegeben.
Nun hoffen Unterstützer der Opposition auf ein ähnliches Szenario bei den Parlamentswahlen. Dann hätte die Jobbik eine Chance auf die Regierungsbeteiligung, jedoch nur in einer Koalition mit einer zweiten Oppositionspartei. Ausgerechnet die Partei, die noch vor ein paar Jahren mit antisemitischen und xenophoben Äußerungen für Schlagzeilen sorgte, könnte einen Wandel bringen. Zoltan, ein 23-jähriger Student aus Budapest mit einem jungenhaften Gesicht und verwuschelten Haaren, ist noch unentschlossen, ob er Jobbik oder Fidesz wählen soll. „Die einen sind zu radikal und die anderen tun gar nichts“, begründet er sein Dilemma. Mit der Kategorie „rechtsextrem“ kann er nichts anfangen: „Es ist mir egal, ob eine Partei rechts oder links ist. Es geht darum, was sie tut.“ Und, dass Orbán in den letzten zwei Perioden seiner Regierung einiges dafür getan hat, den Rechtsstaat auszuhöhlen, ist in Ungarn niemandem entgangen.
Orbán hat die Unabhängigkeit der freien Medien systematisch beschnitten
Mit einem umstrittenen Mediengesetz hat er bereits 2010 das öffentlich-rechtliche Mediensystem gleichgeschaltet und zum Sprachrohr der Regierung gemacht. Eine 2014 eingeführte Mediensteuer trifft vor allem unabhängige Medienhäuser.Besonders spektakulär war die Aushebelung des Verfassungsgerichtshofs im Jahr 2013: Dieser hatte mehrere Gesetze der Regierung wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Orbán verankerte die „verfassungswidrigen“ Gesetze daraufhin mithilfe seiner 2/3-Mehrheit im Parlament in der Verfassung selbst.
Trotz ihrer schwierigen Situation befördern die wenigen, noch unabhängigen Medien regelmäßig Korruptionsfälle in Regierungskreisen ans Tageslicht. Besonders junge Leute ergreifen im Angesicht dieser autoritären Zustände oft die Flucht: Nach verschiedenen Schätzungen haben zwischen 450.000 und 600.000 in den letzten Jahren das Land verlassen. Die Löhne sind mit 950€ im Schnitt niedriger als in den Nachbarländern Tschechien und Slowenien. „Wenn Ungarn endlich den Euro einführen würde, würde das vieles erleichtern“, glaubt Zoltan. Die Löhne würden dann vermutlich steigen, allerdings könnte Ungarn auch seinen Status als Niedriglohnland verlieren, was den Verlust von Arbeitsplätzen nach sich ziehen würde.
Ein Grund für die politische Frustration im Land geht auf ein Ereignis im Jahr 2006 zurück. Der damalige Premierminister Ferenc Gyurcsany hatte mit der sozialistischen Partei (MSZP) die Wahlen gewonnen. Nur wenige Monate später, im September, wurde eine Rede Gyurcsanys geleakt, in der er zugab, dass die Regierung die Bevölkerung im Wahlkampf belogen hatte. In der Folge demonstrierten in Budapest zehntausende Menschen über Monate hinweg. Das ist zwar schon 12 Jahre her, doch die Ereignisse läuteten eine politische Wende ein, die bis heute anhält. Die bis dato acht Jahre regierenden Sozialisten kassierte einen krachenden Vertrauensverlust, von dem sie sich bis heute nicht erholt haben. Und Orbán feierte 2010 in der Folge sein politisches Comeback. Um die Fidesz-Herrschaft zu zementieren, trieb er die Zersetzung des Rechtsstaats umso stärker voran.
Aber auch die Jobbik, die erst 2003 aus einer Studentenbewegung hervorgegangen war, profitierte. „Die tiefe politische Krise und die Frustration ebneten den Weg für die radikalen und extremen Botschaften der Jobbik“, erklärt Bulcsú Hunyadi, der als Analyst für das Recherchezentrum Political Capital arbeitet. Angesichts der Schwächung der Regierung hatten viele Menschen das Vertrauen in die politische Elite verloren: Der perfekte Nährboden für rechtsextreme Botschaften. Auf einmal gab es Sympathien für die junge Partei mit dem Image, Probleme direkt anzusprechen. Anfangs war Jobbik sehr fokussiert auf Anti-Roma Kampagnen. „Sie haben den Anti-Roma Diskurs legitimiert. Für viele Ungarn war es eine Erleichterung, dass es auf einmal erlaubt zu sein schien, schlechte Dinge über Roma zu sagen“, so Hunyadi. Nach Schätzungen des Europarats leben ca. 750.000 Roma in Ungarn, das sind 7.5% der Gesamtbevölkerung. Sie sind von Armut und Diskriminierung in Bereichen wie Bildung oder Wohnungsmarkt betroffen und werden immer wieder Opfer von rassistischer Gewalt
Jobbiks Rezept für den Aufstieg: Anti-Roma-Hetze und Antisemitismus
Jobbik hetzte nicht nur gegen Roma, sondern setzte auch auf antisemitische Äußerungen. 2012 forderte Marton Gyöngyösi, der außenpolitische Sprecher der Partei, alle Juden in der Regierung und im Parlament auf einer Liste zu vermerken, weil sie ein „nationales Sicherheitsrisiko“ darstellten. Das war Anti-Establishment und galt als „revolutionär“. Und: es funktionierte vor allem bei jüngeren Leuten. 2013 war Jobbik laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts Belvedere Meridionale bereits die beliebteste Partei unter Studenten: 33% gaben an, sie zu wählen.
In den vergangenen zwei Jahren ist es ruhiger um die Partei geworden. Jobbik gibt sich moderat, pro-europäisch und hat einen neuen erklärten Feind: „Die korrupte Regierung.“ Szabolcs Szalay ist Teil dieser neuen Jobbik. Der 29-jährige trägt Jeans, Hemd und einen stattlichen Bart. Das Haar sauber gescheitelt, am Finger blitzt ein Ring. Er ist Leiter des außenpolitischen Kabinetts der Jugendorganisation und persönlicher Assistent des Parlamentsabgeordneten Marton Gyöngyösi. Schon als 15-jähriger interessierte sich Szalay für Politik und entwickelt schnell Sympathien für rechtsnationale Parteien. „Familienerbe“, winkt er ab. Nach dem Studium kam er durch ein Praktikum beim Jobbik-Parteivorsitzenden Gábor Vona zur Partei. Heute bewegt sich Szalay geübt durch die langen, prunkvollen Gänge des ungarischen Parlaments, es ist sein Arbeitsplatz. Was er sagt, klingt betont diplomatisch. Jobbik wolle hauptsächlich in die Bildung investieren. Es sei problematisch, dass fast die Hälfte der jungen Ungarn das Land verlassen – sie bräuchten eine Perspektive in der Heimat. Der Korruption der Regierung müsse ein Ende bereitet werden. Und die Sache mit den Roma? „Wir müssen einen Weg finden, die Roma zu integrieren. Ihre Situation ist sehr tragisch,“ entgegnet Szalay prompt.
Die Partei hat begriffen, dass sie mit radikalen Botschaften nur einen kleinen Teil der Menschen erreichen kann
„Es ist eine strategische Entscheidung“, meint Hunyadi, der Analyst. „Die Partei hat begriffen, dass man mit radikalen Botschaften nur eine begrenzte Zahl an Menschen erreichen kann.“ Zudem führt die Regierung selbst seit 2015 eine aggressive Anti-Migrations-Rhetorik. „Jobbik hat erkannt, dass es unmöglich ist, in dieser Frage noch radikaler zu sein als Fidesz. Deshalb sind sie mehr in die politische Mitte gerückt, aber ihre Ideologie bleibt dieselbe.“ Ob der Wandel Einfluss auf ihre Popularität unter den Jungen hat? „Jobbik ist immer noch Anti-Establishment“, so Hunyadi, „sie haben nur das Narrativ geändert.“ Auch die pro-europäische Haltung passt für ihn ins Bild. „Das ist eine neue Ära der Rechtsextremen.“ Der alte Stil habe sich auf die ungarische Nationalität konzentriert, doch durch die Migrationsdebatte der letzten Jahre sei eine neue europäische Bewegung entstanden. „Die neuen Rechten sind viel mehr auf Rasse, Traditionen und christliche Werte fokussiert.“ Die europäische Kultur werde von der nahöstlichen abgegrenzt. Im Fall der Jobbik heißt das, die EU wird akzeptiert, Migration aus Drittstaaten jedoch strikt abgelehnt.
Auf der Kundgebung hält Gábor Vona gerade eine Rede: „Wir haben keine Angst vor Orbán. Der scheidende Premier wird auf die dunklen Seiten der Geschichtsbücher verbannt“, ruft er scharf. Frenetischer Jubel, Fäuste schnellen in die Höhe. Als Vona, der früher Lehrer war, das Rednerpult verlässt, ist die Stimmung ausgelassen. Es wird viel getrunken, auch Sándor öffnet sich ein Dosenbier. „Wir wollen einen ordentlichen Lebensstandard, unsere Lebensbedingungen sind sehr schlecht“, ruft er, und: „Wir wollen die Wage Union.“ Diese soll ein gerechtes Lohnsystem in Europa einführen und wirtschaftliche Ungleichheiten zwischen den EU-Ländern auflösen. Jobbik trieb die Bürgerinitiative, der die EU-Kommission im Mai 2017 zustimmte, maßgeblich voran.
Sándor verspricht sich viel davon. Als Arbeiter hat er einen niedrigen Lohn. Er nickt Richtung Bühne. Vona sei ein ehrlicher Mann, ein guter Arbeiter. Wenn, dann könne nur er den Wandel bringen. Da ist er sich sicher.