Als Hassan an diesem Herbstmorgen aus seiner Wiener Wohnung tritt, ahnt er nicht, dass er heute einen alten Freund wieder treffen wird. Der junge Mann ist vor fünf Jahren aus Afghanistan geflohen. Damals war er erst 20. Seitdem wohnt er in Österreich. Der Westbahnhof ist ihm vertraut, jeden Tag verbringt er dort zwei bis drei Stunden, bevor er zur Arbeit geht. Die Zeit nutzt er zum Essen, Kaffee trinken und um Leute zu beobachten. „Zuhause langweile ich mich nur und WLAN gibt es hier auch," sagt er achselzuckend.
Sonnenstrahlen fallen in die Bahnhofshalle. Die ist heute nicht sonderlich voll, trotzdem haben sich genug Leute in den Nischen des ersten Stocks eingefunden. Hier sind Tische und Stühle aufgestellt, damit man abgetrennt von gestressten Reisenden entspannen kann. An den Tischen verteilt sitzt jeweils eine Person. Alle sind männlich. Alle sind unterschiedlich alt. Ein älterer Herr hält sich ein Handy ans Ohr, aus dem laute, orientalische Musik tönt. Er ist gut gekleidet. Eine Tischreihe weiter sitzt ihm zugewandt ein Mann, der Rotwein aus einem Tetrapack trinkt. An der Bank lehnen seine Krücken.
Viele der Leute hier sind Hassan bekannt. Hier und da begrüßt er jemanden mit Handschlag und wechselt ein paar Worte. Heute taucht ein neues Gesicht in der Halle auf, und doch ist es Hassan vertraut. Er kennt es aus einem scheinbar früheren Leben. Das Gesicht gehört Zigarmal, seinem ehemaligen Nachbarn aus dem Heimatdorf in Afghanistan. Ihre Blicke streifen sich, bleiben hängen. Sie schauen ungläubig. Hassan lacht, läuft zu dem Freund und nimmt ihn in den Arm. Die beiden haben sich seit ihrer Flucht nicht gesehen.
Kurze Zeit später stehen sie zusammen am Geländer, reden und beobachten Leute. Sie wirken nicht besonders überwältigt von dem zufälligen Treffen. Eher so, als hätten sie sich hier, in der Halle des Westbahnhofs verabredet.
Die ersten drei Jahre in Österreich waren schwierig für Hassan. Er lebte in einem Dorf in der Steiermark. „Es gab keine Arbeit, ich habe in einem Heim gewohnt, Deutschkurse wurden nicht angeboten," erzählt er. Seit zwei Jahren ist Hassan nun in Wien, doch auch hier war aller Anfang schwer. Da er keine Arbeit fand, entschloss er sich, ein Jahr lang unbezahlt bei Burger King zu arbeiten. Um dort kochen zu lernen, wie er sagt. Der Plan ging auf: Heute ist er angestellt bei „der Mann" und zeigt uns stolz Bilder von Firmenfeiern und den Sandwiches, die er kreiert hat.
Auf die Frage, ob er im September 2015 auch am Westbahnhof war und die Flüchtlingsankünfte miterlebt hat, verzieht er das Gesicht. „Man muss den Leuten helfen, weil sie alles verloren haben." Andererseits ist er skeptisch. Die Willkommenskultur hat sich schnell geändert. Schon vor fünf Jahren war es schwer einen Deutschkurs zu finden, Hassan hat die Sprache auf der Straße gelernt. Damals wurden im ganzen Jahr rund 14.500 Asylanträge in Österreich gestellt. Im Jahr 2016 waren es bereits im Oktober gut 37.200. Auch Hassans Cousine ist gerade nach Österreich geflüchtet. Sie ist erst 16 Jahre alt. Hassan sieht besorgt aus, wenn er von ihr erzählt. „Sie hat hier keine Beschäftigung. Ich weiß nicht, was sie hier machen soll."
Ein paar Meter entfernt steht der ältere Herr auf, der zuvor mit seinem Handy Musik gehört hat. Er packt sein Handy ein und setzt sich zu dem Mann mit Krücken. Die beiden beginnen sich angeregt zu unterhalten. Sie wirken wie zwei enge Vertraute, aber vielleicht haben sie sich auch gerade erst getroffen. Solche Szenen sind Teil des Alltags, hier am Westbahnhof.
Hassans ehemaliger Nachbar Zigarmal hat das Heimatdorf etwa zur selben Zeit verlassen, vor zirka fünf Jahren. Er ist mit seinen 28 Jahren etwas älter und wirkt ruhiger. Damals, als er mit dem Schlepper nach Österreich kam, ließ dieser ihn am Westbahnhof raus. „Das war das erste, was ich gesehen habe in Wien," sagt er und lässt seinen Blick durch die Halle wandern. Aber er blieb nicht lange. Auch Zigarmal lebte die ersten Jahre auf dem Land, in Niederösterreich. „Dort war es leichter mit den Leuten in Kontakt zu kommen, aber Arbeit gab es keine," sagt er. Heute wohnt er in Salzburg und hat eine Anstellung als Pizzabäcker. Nach Wien ist er g ekommen, weil er einen Termin bei seinem Anwalt hat.
Einen Tisch weiter sitzt ein Mann, der Zeitung liest und gelegentlich einen Schluck Bier trinkt. Dabei stellt er die Dose jedes Mal wieder neben sich auf die Bank, fast so als würde er sie verstecken. Sein Sitznachbar ist zirka 30 Jahre alt und starrt in den Kaffeebecher, der vor ihm steht und mit Nussschalen gefüllt ist. So wird er noch die nächsten zwei Stunden dasitzen.
Auf der anderen Seite der Halle unterhalten sich Willibald und Carmen mit ihren Freunden. Beide kommen jeden Tag zum Westbahnhof, zum Plaudern, Bier trinken und Leute treffen. „Das machen wir so seit 40 Jahren," sagt Willibald. Beide sind um die sechzig. „Was sollen wir denn zuhause? Da ist es langweilig," sagt Carmen. Es klingt fast trotzig. Sie erzählt von einem Mann, der jeden Tag mit seinem Rollator aus Klosterneuburg zum Westbahnhof fährt. Über eine Stunde sitzt er im Bus, um hierher zu kommen und nicht allein in Klosterneuburg zu sein. „Einmal habe ich ihn dort besucht, er hat ein riesiges, schönes Haus", sagt Carmen. Sie und Willibald wohnen gleich um die Ecke des Bahnhofs.
„Es ist eine Flucht vor der Einsamkeit," gibt Carmen offen zu. „Viele Leute sind ja so allein." Willibald isst auch gerne am Westbahnhof zu Mittag. „Für acht bis zehn Euro bekomme ich hier ein ganzes Menü, das gibt's woanders nicht."
Der Westbahnhof verbindet Carmen und Hassan. Beide kommen her, um der Einsamkeit zu entfliehen. Ein großes Wohnzimmer.