Im Urlaub, daheim vor dem Spiegel - und auch gerne mal in unpassenden Situationen aufgenommen: Kein Smartphone-Album, in dem sich nicht zahlreiche Selfies finden. Die Selbstporträts sind zwar etabliert, aber nicht breit akzeptiert. Warum, erklärt die Selfie-Forscherin Kristina Steimer.
Frau Steimer, Selfies scheinen ein Phänomen des 21. Jahrhunderts zu sein. Stimmt das?
Darüber gibt es innerhalb der Selfie-Forschung eine große Debatte, die sich grob gesagt in zwei Stränge einteilen lässt. Einige Forschende sagen, das Selfie ist in die bildhistorische Denklinie des Selbstporträts einzuordnen. Sprich: Es geht um den sich selbst darstellenden Menschen – nur, dass dieser dafür heute eben die digitale Fotografie nutzt. Was früher der Pinsel war, ist heute der Klick auf den Auslöser des Smartphones.
Andere meinen dagegen, Selfies gibt es erst, seitdem Frontfacing-Kameras in Smartphones eingebaut worden sind, also etwa seit den 2000er-Jahren. Vorher ergebe es keinen Sinn, von Selbstporträts als Selfies zu sprechen. Denn die Bedingungen des Entstehens dieser Bilder haben sich massiv verändert.
Was unterscheidet ein Selbstporträt im 16. Jahrhundert von einem Smartphone-Selfie?
Damals, in der Renaissance, wurden Selbstporträts von Künstlerinnen und Künstlern angefertigt und veröffentlicht. Im und mit dem Selfie sind wir dagegen gleichsam alle Künstlerinnen und Künstler. Selfies sind allgegenwärtig. Für sie braucht es, technisch betrachtet, nicht viel mehr als den Griff in die Hosentasche. Auch wird mit dem Selfie der Blick auf sich selbst an einer Mensch-Technik-Schnittstelle verankert, die ihn zu etwas genuin Bearbeitbarem, Archivierbarem und vor allem Kommunizierbarem macht.
Da schließt sich übrigens gleich eine ganze Empowerment-Diskussion mit an. Selfies wohnt ein großes Selbstermächtigungspotenzial inne. Früher, zum Beispiel in der Renaissance, war es nicht jedem und jeder vergönnt, den Pinsel in die Hand zu nehmen und zu malen – und ganz sicher nicht, dieses Bild öffentlich zu platzieren. Heute kann theoretisch jeder ein Selfie in Social Media posten und sichtbar sein.
Wie akzeptiert sind Selfies in unserer Gesellschaft?
Sie sind etabliert, aber nicht breit akzeptiert. Katharina Lobinger, eine Selfie-Forscherin aus der Schweiz, hat dazu Studien durchgeführt. Ein Ergebnis ist, dass ganz viele Menschen das Selfie-Machen anderer Personen abwerten.
Woran liegt das? Finden Menschen dieses Verhalten egozentrisch oder gar narzisstisch?
Nein, um Narzissmus geht es zunächst nicht, sondern um das Schämen und Fremdschämen. Manche Menschen finden es peinlich, wenn andere Selfies im öffentlichen Raum aufnehmen.
Es ist ja auch so ähnlich, wie in der Öffentlichkeit ausführlich in einen Spiegel zu blicken. Das wäre ein seltsames, fast unanständiges Verhalten. Ist es mit dem Selfie ähnlich?
Ja, als ob es etwas Unanständiges wäre, auf sich selbst zu schauen. Vielleicht liegt das auch daran, dass Reflexion und Selbstreflexion in unserer Gesellschaft implizit auf einem bestimmten Vernunftbegriff fußen. Dieser geht davon aus, dass man sich nur über den Rückzug ins Innere, die stille Selbstkonfrontation, erkennen kann. Beim Selfie-Machen richten wir den Blick zwar ganz offensichtlich nach innen auf uns selbst, aber agieren dies massiv über das Außen aus. Ich ziehe mich nicht zurück ins Kloster, schließe die Augen und meditiere. Stattdessen vollziehe ich über den sich am Display meines Smartphones brechenden und mir mein Bild zeigenden Blick eine Art Echtzeitdokumentation meines Lebens – und all meiner Beziehungen zu Orten und Personen.
Was macht ein gutes Selfie aus?
Gut in Bezug auf was?
Wie muss ein Selfie aussehen, damit es viele Likes bekommt?
Ah, also im Sinne von Gefälligkeit. Das ist schwierig zu verallgemeinern. Forschende haben herausgefunden, dass Frauen das Smartphone beim Selfie-Machen oft ein bisschen über sich halten. Sie fotografieren sich schräg von oben. Männer wählen eher einen Aufnahmewinkel, der sie größer wirken lässt im Bild. Es ist also empirisch abbildbar, dass es eine Reproduktion von bestimmten Geschlechterstereotypen auf Selfies gibt.
In der App Lensa erstellt eine künstliche Intelligenz auf der Basis eigener Selfies ein aufgehübschtes Selbstporträt, das oft Geschlechterstereotype betont. Die Gesichtszüge von Männern sehen markanter aus, Frauen bekommen vollere Lippen und rosige Wangen. BeReal lässt dagegen nur Selfies ohne Filter zu. Beide Apps sind gerade populär. Wie ordnen Sie das ein?
Ich finde das sehr spannend. Denn darin steckt genau diese Beziehung zwischen Authentizität auf der einen Seite und Inszenierung auf der anderen Seite. Die Apps bilden zwei Extrempositionen innerhalb des Spannungsfeldes der Selbstdarstellung ab.
Aus meiner philosophischen Perspektive heraus kann ich sagen, dass Authentizität ohne Inszenierung nie möglich sein wird. James Hall, ein Kunsthistoriker, hat im Kontext des Selbstporträts den Begriff des Spiegelmythos geprägt. Damit ist die Annahme gemeint, bei Selbstporträts ginge es vor allem um das exakte Abbild, die akkurate Wiedergabe einer Person. Aber nein, es geht darum, welche Interpretationen eine Person beim Blick auf sich über sich hat. Es geht um Antworten auf Fragen wie: Wer sollte ich sein? Wer kann ich sein? Wer will ich sein? Wer war ich und wer werde ich sein?
Problematisch an Lensa ist, dass die Nutzenden nicht aktiv ihr Bild gestalten, sondern die App sozusagen vorauseilend unterstützend vorgibt, wie ein attraktives Gesicht auszusehen hat. Das kann schlimmstenfalls klinisch werden und zur sogenannten Selfie-Dysmorphie führen. Menschen wollen dann aussehen wie ihr durch Filter optimiertes Gesicht, notfalls durch Schönheits‑OPs.
Wer dagegen oft die App BeReal nutzt, sieht nicht nur sich selbst, sondern auch Freundinnen und Freunde regelmäßig ohne Filter. Warum ist die App beliebt?
Hier ist der kommunikative Aspekt interessant. Wir haben schon über Selfies als Ausdruck des Selbst und Kommunikation im Sinne von Likes gesprochen. Aber man kann ja zum Beispiel auch ein Selfie schicken, statt zu schreiben, wie es einem geht. Das ist eine ganz neue Art der Kommunikation.
Außerdem geht das Posten bei BeReal sehr schnell – man hat ja nur zwei Minuten Zeit, um ein Bild aufzunehmen.
Ja, das kann erleichternd sein. Man muss viel Energie und Arbeit in die eigene Profilpflege und ‑gestaltung hineinstecken, um in den sozialen Vergleichsstrukturen der Social Media mithalten zu können. BeReal ist eine sehr einfache Form der Kommunikation, um mit Freundinnen und Freunden in Kontakt zu bleiben und Einblicke ins eigene Leben zu gewähren. Selbst, wenn man durch die Arbeit und andere Verpflichtungen wenig Zeit hat.
In der Social-Media-Forschung wird viel diskutiert über eine typisch spätmoderne Form der Einsamkeit und die Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben, die die Plattformen bieten. Wenn ich höre, Selfies seien doch nur ein Ausdruck von Eitelkeit, muss ich an meinen Opa denken. Seine Frau ist kürzlich verstorben. Als Profilbild beim Messenger Signal nutzt er ein Selfie von sich mit dem Grabstein seiner Frau. Dieses Bild hat nichts mit Eitelkeit zu tun. Es zeigt nur, dass er sie bei sich haben möchte.
Erfüllen Selfies eine Funktion, die kaum ein anderes Medium erfüllen kann?
Jede und jeder hat die Möglichkeit, sich öffentlich zu zeigen und sichtbar zu machen – und zwar zunächst so, wie man selbst das möchte. Es ist dafür erst einmal nicht relevant, ob jemand anderem zum Beispiel meine Nase gefällt. Man selbst hat die Kontrolle vor und hinter der Kamera. Das führt dazu, dass die Vielfalt der Gesellschaft sichtbarer wird. Es macht aber auch, womöglich provokanter als es andere Medien könnten, bestimmte Kontinuitäten zeigbar. Damit meine ich zum Beispiel Stereotype in der Darstellung oder das Beurteilen dessen, wie der Blick auf sich selbst sein soll, um als angemessen zu gelten.
Zur Person: Kristina Steimer ist Doktorantin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienethik der Hochschule für Philosophie München. Dort leitet sie das Selfie-Forschungsnetzwerk am Zentrum für Ethik der Medien in der digitalen Gesellschaft. Zuvor studierte sie Philosophie.
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