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Gehörlos in der IT-Branche

In Österreich fehlen rund 10.000 IT-Fachkräfte. Zugleich suchen Gehörlose Jobs in der IT-Branche. Okan Yildiz ist einer von ihnen - mit durchaus guten Karrierechancen.


Im obersten Stockwerk einer Altbauwohnung in der Kettenbrückengasse im 5. Wiener Gemeindebezirk hört man viele Finger auf Tastaturen tippen. Auf den ersten Blick wirkt es wie eine Wohngemeinschaft. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber: Im größten Raum wird unterrichtet, die Auszubildenden sitzen in Tischgruppen vor ihren Laptops. Hier bildet das Start-up Codefactory mit zehn Mitarbeitern Interessierte zu Programmierern aus.


Einer von ihnen ist Okan Yildiz. Gemeinsam mit 29 anderen hat er einen achtwöchigen Kurs zum Frontend Developer absolviert. Am Ende dieser Ausbildung ist er in der Lage, Websites zu designen und diese für Endgeräte wie Tablets zu optimieren. Das Außergewöhnliche daran: Der 28-Jährige ist gehörlos – für die Code-School kein Hindernis.


Trotzdem kein Außenseiter

„Elektronische Geräte wie Smartphone oder Laptop vereinfachen die Kommunikation in der Gruppe“, erklärt Yildiz seiner Trainerin Theodora Patkos in Gebärdensprache, die dann in Worte übersetzt. Sie fungiert als Dolmetscherin im Gespräch. Yildiz war im Frontend Developer Kurs der einzige Gehörlose, die Kommunikation – auch auf der sozialen Ebene – funktionierte trotzdem. Die anderen Teilnehmer zeigten sich offen und lernten nach kurzer Zeit selbst ein paar Gebärden. Viele Unterhaltungen fanden per Mail statt.


Patkos wollte nach einem eigenen IT-Kurs eine spezielle Ausbildung für Gehörlose anbieten. Auf die Idee brachten sie zwei Zahlen: Dem „IKT-Statusreport 2019“ des Fachverbands Ubit zufolge fehlen in Österreich rund 10.000 Fachkräfte. Gleichzeitig leben in Österreich 8000 bis 10.000 gehörlose Menschen, wie der Österreichischem Gebärdensprach-DolmetscherInnenverband (ÖGSDV) berichtet. Diese beiden Informationen verknüpfte Patkos und suchte das Gespräch mit der Codefactory. Die 25-Jährige hatte schon davor im Verein WITAF (Wiener Taubstummen-Fürsorge-Verband) mit gehörlosen Menschen zusammengearbeitet.


Gebärden selbst entwickelt

2017 starteten die Vorbereitungen: „Viele technische Begriffe existieren nicht in der Gebärdensprache, deswegen musste ich einige selbst entwickeln“, erzählt Patkos. Das „Wörterbuch“ mit rund 30 neuen Gebärden umfasst Wörter wie „Java Script“, „Html“ oder „CSS“, unverzichtbare Begriffe für eine IT-Ausbildung.


Der Kurs der Codefactory könnte also Vorbild sein: Im Jänner und April diesen Jahres gab es bereits zwei Basis-Testkurse mit jeweils sechs gehörlosen Teilnehmern vom Verein WITAF. Das Konzept wurde gemeinsam mit der in Wien lebenden Trainerin Patkos entwickelt. „Das war nicht nur ein Ausbildungsprojekt, sondern auch ein Sprachforschungs- und Entwicklungsprojekt, um die Branche für Gehörlose weiter zu öffnen und verständlich zu machen“, sagt Codefactory-Geschäftsführer Christoph Pirringer.


Nächstes Jahr soll das Projekt groß aufgezogen werden: Geplant ist eine fünfmonatige „Full Stack“-Ausbildung für 20 Gehörlose. Das junge Unternehmen und die Trainerin suchen noch nach Partnern. Einerseits brauchen sie finanzielle Unterstützung, andererseits personelle: Patkos muss die Unterrichtsmaterialien überarbeiten sowie Lernvideos untertiteln, in Gebärdensprache übersetzen und die visuelle Darstellung verstärken. Allein ist das nicht machbar.


Lieber Ausgleichstaxen zahlen

Trotz vieler Initiativen und Erleichterung der Kommunikation durch technische Geräte zahlen die meisten Unternehmen lieber Ausgleichstaxen als Personen mit Behinderungen anzustellen. Das zeigen auch die vorläufigen Zahlen des Sozialministeriums für das Jahr 2018: „Von 20.481 Dienstgebern haben 16.102 die Beschäftigungspflicht nach den Bestimmungen des Behinderteneinstellungsgesetzes nicht oder nicht zur Gänze erfüllt“, heißt es aus dem Ministerium. Außerdem seien rund 40 Prozent der Pflichtstellen nicht besetzt.


Einer der Gründe dafür seien Vorbehalte und Vorurteile, Menschen mit Behinderung anzustellen. Codefactory aber will zeigen, dass die Zusammenarbeit von Gehörlosen und Hörenden im Kontext des Programmierens funktioniert: „Teamwork steht in unserer Ausbildung ganz oben. Die Zusammenarbeit von Okan und den anderen Kursteilnehmern soll Zweifel bei den Arbeitgebern beseitigen“, sagt Pirringer. Für ihn „ist es wichtig, Menschen zu zeigen, dass es normal ist, mit gehörlosen Menschen zusammenzuarbeiten und sie sichtbarer zu machen.“
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