Meditation über Nähe und Distanz: Leonie Böhm verwandelt Tschechows „Drei Schwestern“ am Schauspielhaus Zürich in einen Männermonolog.
Von Salomé Meier, Zürich
Am Abend der Premiere schneit es. Die Flocken legen sich auf die Mäntel und Hüte der Besucherinnen und Besucher und zerrinnen ab dem Moment, in dem sie ins Schauspielhaus treten. „Vater starb genau vor einem Jahr“, sagt Olga, „es war sehr kalt, es hat geschneit damals.“ Mit diesen Worten beginnt Anton Tschechows Stück „Drei Schwestern“, in dem Andrejs Schwestern Mascha, Olga und Irina von der Rückkehr nach Moskau träumen. Doch das Warten ist wie bei Beckett: vergeblich. Die Rückkehr nach Moskau wird mit jedem Jahr unwahrscheinlicher.
Tschechows „Drei Schwestern“, uraufgeführt 1901, erzählt von Menschen nach einem Verlust, der sie aus allen Gewissheiten hinauskatapultiert hat. Eine Uhr zerbricht. Die Zeit scheint stillzustehen. Verdammt zur permanenten Wiederholung, zum sinnlosen Warten, kommt ihnen das Gefühl für die Wirklichkeit abhanden.
Leonie Böhms Inszenierung „Schwestern“ setzt in vielerlei Hinsicht nach Moskau und auch nach Tschechow an. Von den drei Schwestern keine Spur. Stattdessen erhebt sich zu Beginn ein Mann mit langen, ungekämmten Haaren im Publikum, blickt um sich. Zaghaft spricht er jemanden an: „Hallo, wie geht’s?“ Die Antwort kommt zögerlich, vage: „Ganz gut.“ „Passt“, antwortet ein anderer. Ein dritter findet: „Anstrengend.“ Es sind tastende Versuche, in Kontakt zu kommen. Versuche, die vorerst scheitern.
Die Geschichte von Leonie Böhms Inszenierung „Schwestern“ ist eng verbunden mit den gesellschaftlichen Ereignissen der vergangenen Jahre. Ursprünglich geplant als Ensembleproduktion mit vier Schauspielenden, machte der zweite Lockdown im Dezember 2020 der Produktion einen Strich durch die Rechnung. Von einem Stück, das Nähe, Gemeinschaft und Aufbruch verhandeln wollte, blieben allein Scherben zurück. Entstanden ist so im April 2021 ein zweiter Versuch: „Schwestern“ als ein aus dem leeren Pfauen heraus gestreamter Monolog eines Zurückgebliebenen (Lukas Vögler). Nun, bald zwei Jahre später,
also die Rückkehr ins Schauspielhaus, vor anwesendes Publikum.
Sich durch die vollen Besucherreihen drängend, vorbei an Beinen, Armen, Körpern, die lange Zeit nur virtuell da waren, imaginiert werden mussten, zögert Lukas Vögler den Schritt auf die Bühne lange heraus, so als wüsste er nicht recht, was er da oben solle. Angekommen, breitet er die Hände aus und das Publikum als „liebe Schwestern!“ an. Später setzt er sich auf den Rand der Bühne und blickt in den Publikumssaal, der bis jetzt hell geblieben ist: „Kennst du das: Du sitzt in einem Restaurant, du kennst niemanden, niemand kennt dich, und trotzdem fühlst du dich nicht fremd. Hier kennst du alle, und alle kennen dich, aber du bist fremd, fremd . . . fremd und einsam.“
Bei Tschechow ist es Andrej, der diesen Satz im zweiten Akt mehr zu sich selbst als zu einem Bewohner der Gouvernementstadt sagt, in der sie nach dem Tod des Vaters wohnen. In Böhms dramaturgisch aufregend konzipierter Inszenierung ist es statt der Dialoge ein einziger Monolog, der – von Namen, Orten und näheren Zusammenhängen befreit – auf die Grunderfahrung menschlichen Daseins reduziert ist, sodass aus dem Stück eine anthropologische Meditation über Nähe und Distanz, über Verbundenheit und Entfremdung wird.
Dass Lukas Vögler allein auf der Bühne steht, stimmt jedoch nicht ganz. Im Dunkel der schwarzen Bühne ist auch noch ein riesiger Panther zu sehen; die Ohren nach hinten gelegt, die Zähne gefletscht, ein ängstliches, lauerndes Ungetüm, ein zugleich an- und abwesendes Traumtier. Im Laufe des Stücks wird Lukas Vögler den Panther umkreisen, er wird ihm Fragen stellen, ohne eine Antwort abzuwarten, er wird sich auf eine seiner riesigen Pfoten setzen, dessen spitze Krallen ihn im Handumdrehen zerfetzen könnten. Ähnlich wie sich die Figuren in Tschechows Stück einander annähern oder distanzieren und sich dabei zunehmend fragen, ob sie wirklich existieren oder ob es sie in Wirklichkeit doch gar nicht gibt, so behandelt auch Lukas Vögler den Panther nicht anders als ein überdimensionales Requisit.
Es ist selbstverständlich Rilkes Gedicht „Der Panther“, das aufgerufen wird und das von jenem mächtigen Raubtier handelt, das in einem Käfig betäubt im Kreise geht. In einer discoartigen Einlage singt Vögler: „Mir ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Aber das Bühnenbild referiert zugleich auf ein weiteres Kunstwerk: Während der gesamten Vorstellung sitzt ein Souffleur (János Stefan) auf einem Stuhl im linken vorderen Teil der Bühne. Damit erinnert die Bühne an David Hockneys Radierung „A Black Cat Leaping“ von 1969, inspiriert von Grimms Märchen vom phantasielosen Jungen, „der loszog, das Fürchten zu lernen“.
„Schwestern“ ist auch ein musikalisches Stück. Begleitet werden die musicalartigen Elemente oder der Gesang eines Chors, der sich mit einem Mal mitten aus dem Publikum erhebt, von inhaltlichen Reflexionen über Resonanz und rhythmische Wiederkehr, die bereits in Tschechows Stück angelegt sind. Wie von Weitem dringen dort wiederholt Klänge einer Harmonika, eines Klaviers oder einer Harfe in die Stube der Geschwister. Es sind flüchtige Wahrnehmungen, die sowohl auf die An- und die Abwesenheit von Menschen hinweisen. Als Irina im Tschechowschen Original ihrem Bräutigam gesteht, dass sie ihn zwar heiraten, aber nie wird lieben können, erklärt sie ihm: „Mein Herz ist wie ein Flügel, den man zugeschlossen hat und den Schlüssel verloren hat.“ Vögler zitiert den Satz ohne Scheu. Und doch: Von einer Liebesbeziehung ist bei Leonie Böhms eindrucksvoll destillierter Inszenierung nicht mehr die Rede. Viel eher geht es um die Sorge eines kollektiven Resonanzverlusts in einer sich zunehmend ins Virtuelle verschiebenden Gegenwart.
Zum Schluss kommt es, wie es kommen muss: Der Panther erwacht zum Leben, Lukas Vögler steigt in seinen Schlund und singt „Ohne dich“ von Rammstein:
„Ohne dich kann ich nicht sein / Ohne dich / Mit dir bin ich auch allein / ohne dich“. Die Bühne verschwindet in Rauch und Dunkelheit, bis nur noch die grellgelben Augen des Panthers zu sehen sind, die uns anblicken, bis zuletzt.
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