Heute wird der Welttag des Buches gefeiert: Dem Bücherhandel mag es dieser Tage nicht immer gut gehen. Berlins Bibliotheken beweisen, dass das Lesen an sich nach wie vor ungetrübt beliebt ist.
Montagmorgen, 7.55 Uhr. Eine Traube von Studenten steht vor dem bunkerartigen Gebäude unweit der Friedrichstraße. Fünf Minuten später öffnen sich die Türen, die Wartenden werfen ihre Taschen zu Boden, rennen hinein, reservieren Plätze mit den vorhandenen Papp-Pausenscheiben, die an Parkscheiben erinnern.
Nach einer Stunde Abwesenheit darf der Platz anderweitig vergeben werden. Der Großteil der Lernplätze im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum ist für Studenten der Humboldt-Universität reserviert. Als externer Besucher fühlt man sich leicht ungewollt, wenn die Kontrolleurin einen vom Platz vertreibt: "Nur für HU-Studenten. Sie können ins Erdgeschoss gehen." Könnte man. Ist aber alles besetzt.
Hinter den Mühen der Besucher verbirgt sich aber eine gute Nachricht: Bücher sind nach wie vor beliebt. Die Bibliothek in Mitte lockt mit rund 2,5 Millionen Büchern aus allen Fachbereichen. Die Nachfrage ist groß: 7,76 Millionen Besucher zählen die Bezirks- und Stadtbibliotheken pro Jahr. Damit seien Büchereien die beliebteste Kultureinrichtung der Stadt, wie Stefan Rogge, Chef des Landesverbandes im Deutschen Bibliotheksverband, nicht ohne Stolz bemerkt. Und im übrigen zählten Bibliotheken deutschlandweit mehr Besucher als erste und zweite Bundesliga.
Das alles sei nur gesagt, weil heute der "Welttag des Buches" gefeiert wird. Dieser Tag wurde von der Unesco ins Leben gerufen und die internationale Organisation hat sich dabei etwas gedacht und ihn auf den Todestag von William Shakespeare und Miguel de Cervantes gelegt. Rosen und Bücher werden verschenkt und die "Freude am Lesen" soll im Mittelpunkt stehen. Die Aktion geht Hand in Hand mit der Kampagne "Vorsicht Buch!", eine Initiative des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Auch hierbei geht es darum, dem "Buch zu einer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit zu verhelfen" und "das Image des Buches hervorzuheben und zu steigern".
Unumstritten ist die Kampagne bei den Buchhändlern nicht, zielt sie doch auch ein wenig auf einen Mitleidseffekt. Bücher geraten auf diese Weise leicht in die gleiche Kategorie wie bedrohte Tierarten. So kommt ein "Welttag des Buches" in Deutschland zwangsläufig ein wenig schräg daher. 400 Millionen Bücher werden pro Jahr gekauft, um die 80.000 Neuerscheinungen gibt es pro Jahr.
Der Markt ist stabil, die Umsätze stiegen im vergangenen Jahr sogar an. Andere Branchen werden neidisch, wenn sie sich die Sorgen der Buchbranche anschauen, schließlich handelt es sich bei ihrem Produkt weiterhin und unveränderbar um ein prinzipiell hohes Kulturgut. Der Ruf des Buches hat in Deutschland ein unerschütterliches Image: Egal, ob sprachlich bescheidende Prosa, Fitnessratgeber, die einem einen schönen Körper ohne Anstrengung versprechen oder Pamphlete wie "Deutschland von Sinnen" - Hauptsache, es ist ein Buch und damit ist es per definitionem besonders wertvoll.
Ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein hat sich die Buchbranche auch selbst zuzuschreiben. In den 90er-Jahren expandierten Unternehmen wie Weltbild, Kiepert, Bouvier und Thalia deutschlandweit. Kaum ein Städtchen wurde von einer Buchkette übersehen und nicht mit einer neuen Filiale bedacht. Die Expansion wurde durchgezogen, ohne dass sich die Unternehmen fragten, wer diese Bücher an den vielen Standorten bitte schön lesen solle. Es kam, wie es kommen musste: Einige Konzerne gingen insolvent, andere reduzierten die Anzahl ihrer Standorte deutlich.
Nur Amazon, seit 1998 auf dem deutschen Markt, wurde vom Handel erst übersehen, dann nicht ernst genommen und steht heute als Totengräber des deutschen Buchhandels am Pranger. Damit macht es sich der Handel ein wenig einfach: Denn der Anteil der sogenannten Non-Books in den Buchketten steigt, ihre Auswahl an Büchern ist austauschbar und - aber vielleicht hat man da auch in letzter Zeit nur Pech gehabt - man würde sich auch wieder Buchhändler mit mehr Kenntnis wünschen.
Kurzum, die Sorgen des stationären Buchhandels und die Sorge um das Buch werden gelegentlich durcheinandergeworfen, auch weil der Buchhandel als Lobbyist gern einen Alleinvertretungsanspruch suggeriert. Dem Buch hingegen, das ohnehin im Zuge eines beliebten Kulturpessimismus permanent vor dem Untergang bedroht zu sein scheint, geht es gut: Um die 85 Bibliotheken gibt es in Berlin, über 23 Millionen Entleihungen im Jahr, die Nachfrage ist also nicht das Problem.
Von Erziehungsratgebern bis zu Unterrichtsmaterial und natürlich auch Romanen wird alles nachgefragt. Das Prinzip der Auslese ist dabei knallhart darwinistisch: Was nicht ausgeliehen wird, fliegt aus dem Bestand. Eine Pflicht zur Aufbewahrung bestimmter Titel gibt es in den Bezirksbibliotheken nicht. Zwischen 800 bis 1000 Besucher zählt etwa die Humboldt-Bibliothek in Tegel, die meisten Menschen kommen am Sonnabend, obwohl die Einlasszeiten an dem Tag am kürzesten sind.
Sie ist schon etwas ganz Besonderes, im Grunde ist das Haus "völlig ungeeignet" für eine Bibliothek, wie Leiterin Hannelore Wagner-Hohenlobbese feststellt. Zwei Eigenschaften zeichnen den Bau aus, die Bibliothekare überhaupt nicht schätzen: Die Wege sind weit und das Gebäude ist unübersichtlich, es gibt jede Menge Nischen. Entworfen wurde er im Zuge der Internationalen Bau-Ausstellung 1988, ein Jahr später eröffnete die von Charles Moore entworfene Bibliothek am Tegeler See. Und trotz auf den ersten Blick erst einmal mangelhafter Eigenschaften ist Hannelore Wagner-Hohenlobbese immer noch schwer verliebt in ihre Bibliothek, obwohl sie die Institution schon seit 2001 leitet. Denn sie ist hell, freundlich und lädt zum Verweilen ein.
"Die Menschen haben an Bibliotheken die gleichen Erwartungen wie an den Einzelhandel selbst", sagt Stefan Rogge vom Bibliotheksverband und so ist es dann auch. Mag es in den Bezirksbibliotheken in Wirklichkeit ein wenig lauter als gedacht und auch gewünscht zugehen, ist es doch ein Zeichen für ihre Beliebtheit. "Lebendigkeit und Abgeschiedenheit" würde "ihre" Bibliothek bieten, sagt Hannelore Wagner-Hohenlobbese. Die meisten Nutzer kommen wegen der Bücher. So auch Angela Geiselhardt, Deutsch- und Mathematiklehrerin am Georg-Herwegh-Gymnasium. "Zum Vorbereiten der Abituraufgaben nutze ich gerne die Literatur, die von der Bibliothek zur Verfügung gestellt wird", sagt Angela Geiselhardt. Und auch Schüler kommen gern und reichlich. Vor der regulären Öffnung der Bibliothek um elf Uhr kommen Schüler oder Kita-Gruppen aus Reinickendorf, als Einladung für ein lebenslanges Lesen sozusagen. Pia Gorski lernt für ihr Mathematikabitur am Thomas-Mann-Gymnasium: "Ich wohne in der Nähe und nutze den Platz zum konzentrierten Lernen."
Bibliotheken fungieren auch als sozialer TreffpunktEs kommt also auch auf die Entfernung an. Schließlich kann eine Bibliothek auch ein sozialer Treffpunkt sein, wie es augenscheinlich die Wilhelm-Liebknecht-Bibliothek unweit des Kottbusser Tores ist. Während sich die türkischen Männer in den Cafés im Umfeld treffen, gehen ihre Frauen in die Bücherei an der Adalbertstrasse. Umso bitterer und unverständlicher ist es dann, wenn die Bona-Peiser-Bibliothek im definitiv nicht schicken Teil Kreuzbergs in diesem Jahr geschlossen werden soll.
Wenn die eine Bezirksbibliothek geschlossen werden soll, auf der anderen Seite bei dem geplanten Neubau der Zentral- und Landesbibliothek in Tempelhof Geld keine so große Rolle zu spielen scheint, kommt schnell schlechte Stimmung auf. Das Argument, das an dieser Stelle immer kommt, nämlich, dass das eine Bezirkssache und das andere Sache der Stadt sei, interessiert aus Bürgersicht wenig. Dass die Aufteilung zwischen Bezirk und Land so kompliziert ist, haben sich schließlich auch Politiker und Bürokraten ausgedacht.
Man kann daher wirklich nicht sagen, dass Volker Heller, Managementdirektor der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin, derzeit Rückenwind für einen Neubau der Zentral- und Landesbibliothek am Tempelhofer Feld hat. Mit dem kurz nach Jahresbeginn zurückgetretenen Kulturstaatssekretär André Schmitz ist ihm ein wichtiger und eloquenter Unterstützter verloren gegangen. Dass Tim Renner, Schmitz' designierter Nachfolger, der in der kommenden Woche die Amtsgeschäfte übernehmen wird, den Neubau mit gleicher Begeisterung verfolgen wird, wäre zumindest überraschend für einen Mann, der so an der Vision einer digitalen Revolution hängt.
Schlimmer noch aus Hellers Sicht ist, dass die Frage über die Zukunft des Tempelhofer Feldes mittlerweile eine grundsätzliche, fast ideologische Frage geworden ist. Sein Anliegen, die in Ost und West zerrissenen Bestände wiederzuvereinen, ist in diesen Wochen nur ein lahmes Sachargument. "Der Bau einer neuen Zentral- und Landesbibliothek ist zum Symbolprojekt geworden", sagt Volker Heller, "das eigentliche Vorhaben der Bibliothek rückt in den Hintergrund. Fast bekommen wir das Gefühl, als würden wir auf der Suche nach einem Endlager für Atommüll sein."
So kann man es sehen. Dass Heller sich neue Räumlichkeiten wünscht, kann nachvollziehen, wer seine Bibliothek in Mitte betritt. Durch die schweren Türen aus Glas und Eisen betritt sie der Besucher, verglaste Wände geben den Blick auf einen leeren Innenhof frei, vereinzelt gibt es Gartenstühle. Sie ist, wohlwollend formuliert, zweckmäßig eingerichtet. Doch jeder Arbeitsplatz ist besetzt.
Das ist in Berlins Bibliotheken Normalität. Sie sind zu Aufenthalts- und Ruheorten geworden. "Wir können den Bedarf nach Arbeitsplätzen nicht decken", sagt Stefan Rogge vom Bibliotheksverband. Das ist sowohl in den Universitätsbibliotheken wie auch in den Bezirksbibliotheken zu beobachten.
"Wer bei uns sich an die Arbeitsplätze setzt, sucht nicht unbedingt nur nach Ruhe", sagt Hannelore Wagner-Hohenlobbese aus der Tegeler Bibliothek, "sondern hier kann er konzentriert arbeiten. Zu Hause lässt man sich viel leichter ablenken."
© Berliner Morgenpost 2017 - Alle Rechte vorbehalten.
Original