- Seitenweise wahres Leben
Wie autobiografisch ist die Gegenwartsliteratur?
Shida Bazyar, Julia Zange und Olga Grjasnowa
von Sally-Charell Delin
"Unsere Kultur ist besessen von realen Ereignissen, weil wir kaum noch welche erleben", schreibt der Autor David Shield in seinem Buch "Reality Hunger". Liegt es daran, dass in den vergangenen Jahren vermehrt literarische Werke in den Vordergrund rücken, die auf Biografisches setzen? Das bekannteste Beispiel ist der Norweger Karl-Ove Knausgård mit seiner Romanreihe "Min Kamp", in der er auf über 4500 Seiten von seinem Leben erzählt. Knausgård selbst schreibt im letzten Band "Kämpfen": "Wenn es so ist, dass alles entweder Fiktion ist oder als Fiktion gesehen wird, kann die Aufgabe des Romanciers nicht länger darin bestehen, weitere Fiktionen zu schreiben."
Gerade jungen Autoren sagt man nach, sie würden vor allem über sich selbst schreiben. Woher aber nehmen sie wirklich ihre Stoffe, und wie stark bearbeiten sie Selbsterlebtes in ihren Büchern? Für den KULTURTEMRIN Literatur hat Sally-Charell Delin mit drei jungen Autorinnen der Gegenwartsliteratur über die sogenannte "neue Authentizität" gesprochen und sie gefragt, wie sie mit Fakten und Fiktionen in ihren aktuellen Büchern umgegangen sind.
Shida Bazyar erzählt in "Nachts ist es leise in Teheran" die Geschichte einer Familie, die nach der Revolution aus Iran nach Deutschland fliehen muss. So wie ihre eigene Familie auch. Dennoch ist die Realität nur ein Kern des Erzählten.
"Das ist für mich wirklich das Elementarste: Das ist nicht mein Papa. Oder es ist nicht meine Mama. Aber es sind deren Perspektiven, oder es könnten sie sein." Shida Bazyar
Olga Grjasnowa hat sich in ihrem neuen Roman scheinbar weit vom eigenen Leben entfernt, sie erzählt von einem Syrer und einer Syrerin, die nach Deutschland flüchten müssen. Grjasnowa war selbst nie in Syrien, und dennoch "Gott ist nicht schüchtern" sehr nah an eigenen Emotionen, weil sie beim Schreiben an die Flucht ihrer jüdischen Großmutter vor über 70 Jahren denken musste.
„Wenn man eine Frau ist, wird man immer anders gelesen als ein männlicher Autor. Diese Vorstellung ist immer noch weit verbreitet, dass Frauen per se autobiographisch schreiben, dass es alles autobiographisch zu lesen sei.“ Olga Grjasnowa
Julia Zange schließlich schrieb ihren zweiten Roman mit dem Anspruch, über ihr eigenes Leben zu schreiben. Sie arbeitete nur sechs Monate an "Realitätsgewitter" über die junge Marla, eine Mitt-Zwanzigerin, die sich durch das Berliner Leben treiben lässt.
"Ich bin kein Schriftsteller, der sich Sachen einfach nur ausdenkt. Die sind immer irgendwie ganz nah an meinem Leben. In der Form, so wie ich es geschrieben hab, gab es das aber tatsächlich nicht. Das ist trotz allem ein Roman." Julia Zange
Technik: Gaby Klusmann
Regie: Clarisse Cossais
Redaktion: Anne-Dore Krohn