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Wie die Polizei Verbrechen vorhersagen will - WELT

In einigen deutschen Städten setzt die Polizei Programme ein, die voraussagen sollen, wann und wo Einbrüche stattfinden. Das ist ein umstrittener Trend. Auch in Hamburg wird dazu geforscht. Doch die Skepsis ist groß.

Verbrechen voraussagen, bevor sie geschehen: Das klingt nach ferner Zukunft und erinnert gleichzeitig an den Film „Minority Report". In dem Hollywood-Streifen mit Tom Cruise nimmt die Washingtoner Polizei Mörder fest, bevor sie die Tat begehen. Doch was wirkt wie Zukunftsmusik, ist doch schon ein wenig in Deutschland angekommen. In einigen Bundesländern arbeiten Polizeibehörden bereits mit Software, die verspricht, Zeit und Ort von Einbrüchen vorauszusagen. Und in Hamburg erforscht das Landeskriminalamt (LKA), ob sie bald eingesetzt werden könnte.

„Predictive Policing" ist ein umstrittenes Verfahren

Wenn die Polizei eine Software zur Vorhersage von Verbrechen heranzieht, wird das als „Predictive Policing" bezeichnet. Auf Deutsch kann man das mit „vorhersagebasierte Polizeiarbeit" übersetzen. In Deutschland ist Predictive Policing bislang vor allem an das Delikt „Wohnungseinbruchdiebstahl" gekoppelt. Ein Algorithmus berechnet dabei, wann und wo der nächste Einbruch mit hoher Wahrscheinlichkeit stattfindet. Die Polizei fährt in das prognostizierte Gebiet und schreckt die Einbrecher ab oder ertappt sie sogar auf frischer Tat - so jedenfalls die Theorie.

In der Praxis ist diese Art der Polizeiarbeit jedoch umstritten. Zurzeit wird Predictive Policing in sechs Bundesländern eingesetzt oder ist in der Pilotphase. Dabei ist ein Nord-Süd-Gefälle auffällig: Während Predictive Policing im Süden relativ verbreitet ist, ist die Polizei im Norden zurückhaltender. So hat das LKA Hamburg 2015 zwar mit Erfolg die Soko „Castle" gegründet, um die steigende Anzahl von Einbrüchen zu bekämpfen. „Das wäre eigentlich eine gute Möglichkeit gewesen, Predictive Policing zu pilotieren", sagt Simon Egbert. Er ist Kriminologe an der Universität Hamburg und forscht zu Predictive Policing im deutschsprachigen Raum.

Auf die eingegebenen Daten kommt es an

Doch das LKA entschied sich dagegen, Predictive Policing in Hamburg auszuprobieren. Stattdessen hat es im Januar 2016 das Forschungsprojekt „Prädiktionspotenzial schwere Einbruchkriminalität" gestartet. Noch bis Ende dieses Jahres erforschen Mitarbeiter der Kriminologischen Forschungsstelle des LKA, ob Predictive Policing in Hamburg eingesetzt werden soll und welche Folgen das für Hamburg und seine Polizei hätte. Außerdem untersucht das LKA in dem Zusammenhang, wie gut grundsätzlich die Sachbearbeitung bei Einbrüchen ist. Das wiederum hat Auswirkungen darauf, welche Daten der Polizei vorliegen und ob diese qualitativ gut genug sind, um sie in eine Predictive-Policing-Software einzugeben.

Die Technologie birgt Risiken

Die Qualität von Daten ist beim Predictive Policing nämlich entscheidend. So nutzt die Polizei nur Daten, die sie selbst erhoben hat, doch diese Daten sind verzerrt. Sie zeigen zum Beispiel nicht, was im Dunkelfeld passiert. Das heißt: Nicht jede Straftat, die geschieht, wird von der Polizei registriert. Genauso wenig verraten sie, wer letztlich verurteilt wurde, denn die Polizei ermittelt nur Tat verdächtige. Stimmt aber die Qualität der Daten nicht, wird die Prognose falsch. Informatiker nennen dieses Phänomen „Garbage in, garbage out": Wird der Algorithmus mit „Müll" gefüttert, gibt er auch „Müll" heraus - selbst wenn der Algorithmus noch so gut ist.

Neben verzerrten Daten birgt Predictive Policing weitere Risiken: Polizisten kontrollieren die prognostizierten Räume natürlich verstärkt. „Die Verdachtsschwelle sinkt dadurch", erklärt der Kriminologe Simon Egbert. Für seine Forschung hat er Polizeistationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz besucht, vor Ort Interviews mit Polizisten geführt, sie bei ihrer Arbeit mit der Software beobachtet und Dokumente ausgewertet. „In vielen Interviews habe ich gehört, dass Menschen in den prognostizierten Räumen früher und häufiger kontrolliert werden", sagt der Wissenschaftler. Er befürchtet, dass sich durch die Arbeit mit Prognosesoftware auch das Racial Profiling verstärkt - also Menschen aufgrund äußerer Merkmale verdächtigt werden. „Die Polizisten achten auf Leute, die ‚ausländisch aussehen' oder auf Fahrzeuge mit fremdem Kennzeichen."

Mythos von osteuropäischen Einbrecherbanden

Bis 2015 sind die Einbruchszahlen in Deutschland massiv angestiegen. Das Delikt Wohnungseinbruchdiebstahl wurde in Hamburg 2015 rund 9000 mal in die polizeiliche Kriminalstatistik aufgenommen. Zum Vergleich: 2007 kam es 5700 mal vor. Wegen der steigenden Fallzahlen und eigenen Erfahrungen entwickelte sich bei der Polizei eine Theorie: Es seien professionelle Einbrecherbanden aus Osteuropa, die durch Deutschland reisen, einbrechen und klauen. Dieses Polizei-Narrativ erklärt, warum Polizisten besonders auf „fremd aussehende" Menschen achten. Allerdings lässt sich die Theorie um osteuropäische Einbrecherbanden nicht wissenschaftlich bestätigen. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat sie 2015 untersucht. Die Wissenschaftler haben festgestellt, dass beim Wohnungseinbruchdiebstahl die Hälfte aller Verurteilten Deutsche sind. Sie machen die größ-te Gruppe aus. 28,8 Prozent der Ver-urteilten kommen aus Osteuropa. „Eine Dominanz eines bestimmten Tätertyps lässt sich nicht feststel-len", schreiben die Forscher in ihrer Studie.

Predictive Policing ist in Deutschland auch deswegen zum Trend geworden, weil die Politik etwas gegen die steigenden Einbruchzahlen unternehmen wollte. Der Einsatz von Prognosesoftware verspricht eine gezielte und effiziente Polizeiarbeit. Doch nach 2015 sind die Einbruchszahlen wieder gesunken. Im vergangenen Jahr registrierte die Polizei in Hamburg 5770 Einbrüche. Das ist ein Rückgang um rund 36 Prozent im Vergleich zu 2015. Darum ist das Thema ein wenig verpufft. „Bei sinkenden Fallzahlen ist der symbolische Wert von neuen Sicherheitstechnologien für Politiker geringer", erklärt Egbert.

Funktioniert Predictive Policing also?

Das Interessante ist: Die Fallzahlen sind in ganz Deutschland zurückgegangen - sowohl in Ländern mit Predictive Policing als auch in denen ohne Prognosesoftware. Das wirft die Frage auf, ob Predictive Policing überhaupt funktioniert. Darauf gibt es keine klare Antwort. Angenommen, die Software prognostiziert einen Risikoraum und eine Streife wird dorthin geschickt. Die Polizisten vor Ort finden keine Einbrecher. Dafür wären zwei Erklärungen möglich: Entweder war die Prognose richtig und die Polizei hat die Einbrecher durch ihre Präsenz abgeschreckt. Oder die Polizei hat keine Einbrecher gefasst, weil die Prognose falsch war. Welche Erklärung stimmt, bleibt offen. Es gibt mithin keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege für die Wirkung von Predictive Policing.

Trotz Risiken und unklarer Wirkung sieht der Kriminologe Egbert dennoch einen Vorteil: „Streifen werden durch die Prognosen gezielt losgeschickt. So fahren sie nicht einfach zufällig Stadtteile ab." Er glaubt, dass Daten und ihre Analyse in Zukunft für die Polizei immer wichtiger werden. Hamburg hält er grundsätzlich für geeignet, um Predictive Policing anzuwenden. „Wir haben hier einen hochurbanisierten Raum mit hoher Einwohnerdichte. Das bedeutet: Es gibt viele Fälle auf kleinem Raum. Der Near-repeat-Ansatz könnte hier deshalb gut funktionieren." Die Near-repeat-Theorie kommt aus der Kriminologie. Sie besagt, dass professionelle Täter nach einem erfolgreichen Einbruch dazu neigen, kurz danach im Umkreis des Tatorts erneut zuzuschlagen. Diese simple Theorie wird in einen Algorithmus übersetzt. Sie ist der häufigste Kerngedanke in der Software für Predictive Policing, die in Deutschland verwendet wird. „Allerdings bezieht sie sich nur auf Täter, die nach einem bestimmten Muster vorgehen", gibt Egbert zu bedenken.

LKA ist zurückhaltend

Obwohl sich Predictive Policing gut auf Hamburg anwenden ließe, ist fraglich, ob es eingeführt wird. Neben Risiken wie falschen Prognosen und Racial Profiling stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Denn eine neue Software einzuführen ist teuer und aufwendig. Außerdem sinken derzeit die Einbruchzahlen auch so. Konkret wollte sich das LKA wegen der noch laufenden Prüfung derzeit nicht äußern, die LKA-Mitarbeiter haben jedoch in Fachzeitschriften bereits mehrere Artikel über ihr Forschungsprojekt veröffentlicht. In ihnen ist zu lesen, dass das LKA durchaus mit Skepsis auf Predictive Policing blickt. So betont das LKA mehrmals, wie wichtig es ist, eine Entscheidung über Predictive Policing sorgsam abzuwägen. In einer Publikation heißt es: „Eine Behörde kann sich ... ihre ,langsamen Mühlen' zum Vorteil machen, indem sie aktuelle Trends entschleunigt." Die Polizei Hamburg habe dem Predictive-Policing-Hype eine wissenschaftliche Prüfung entgegengesetzt. Der Kriminologe Simon Egbert hält das für eine mutige Entscheidung: „Denn es gibt durchaus politischen und medialen Druck zur Einführung."

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