Wir haben das Trio zum Release getroffen.
Lange war alles bei den Gaddafi Gals ein einziges Rätsel: woher sie kommen, warum sie sich als vermeintliche Clique des libyschen Ex-Diktators ausgeben und überhaupt – niemand wusste Genaueres. Ihre Sticker mit den zwei goldenen Gs tauchten seit 2016 in Clubs in Leipzig, München, Wien und Berlin auf. Die Vermutung lag also nahe, dass sie irgendwo aus diesem Dunstkreis kommen mussten.
Aber nichts Genaues weiß man nicht.
Googelte man noch vor zwei Jahren die Gals, fand man nur semi-aufschlussreiche Schnipsel, vor allem aber das fulminante Video zu ihrer Single "FILA", eine Hymne an die 90er-Treter und Kritik an unserer nie enden wollenden Konsumgier.
"I’m not a material person (…) They are just cool (..) that’s what I like", babbelt im Sample eine Kinderstimme vor sich hin, und dazu gibt es am Ende noch ein Cover-Sample vom Cardigans-Klassiker "Lovefool". Fertig war der Mega-Ohrwurm aus dem Underground, der gar kein Hit sein wollte.
Wer Gaddafi Gals verstehen will, sollte sich erst einmal die ziemlich nach vorn preschende EP "The Death of Papi" anhören. Als die erschien, wusste man zumindest, wer zum Teufel die drei sind: der Produzent und Interpret von Underground Beat Tapes, Walter p99 arke$tra, Sängerin Slimgirl Fat, die zuvor bereits unter dem Namen Nalan381 ihr Ding machte, und Rapperin Blaqtea, auch bekannt als Deutschrap-Retterin Ebow.
Die EP verkündet zwar plakativ den Tod des Patriarchats, aber auch das ist nur der Schleier für etwas Größeres. Die vier Songs sind der Ausgangspunkt für ihr Debütalbum "Temple", das dann doch alles ganz anders machen will – und vor allem ein bisschen Mysterium lüftet. Das Trio redet nämlich jetzt über seine Tracks, die manche als "Avantgarde-Hip-Hop" oder "Future-R'n'B-Rap" betiteln, aber eigentlich nicht so recht in eine Schublade passen wollen.
"Es fasziniert einfach. Jede und jeder steht doch darauf in einer gewissen Art und Weise", sagt Sängerin Slimgirl Fat im NOIZZ-Interview und fügt hinzu: "Dass man so wenig wie möglich von sich preisgibt – gerade in der heutigen Zeit –, finde ich total spannend und interessant." Die Suche nach dem Dahinter kann aber auch frustrieren.
Ein bisschen wie bei einer Schnitzeljagd, bei der man den Preis nicht findet.
Aber, so Slimgirl Fat, auch das habe ja etwas Gutes: "Für mich zum Beispiel als Sucherin, die jemanden interessant findet, bietet das auch die Chance, die Künstler besser kennenzulernen – weil man sich Mühe gibt." Das ist auch Teil der Faszination, die einen zum Album führt.
Die 14 Songs auf "Temple", der immer wieder zum Bezugspunkt wird und als Metapher für das Insichgekehrte gilt, handeln von sehr persönlichen und emotionalen Themen: toxische Beziehungen, bedingungslose Liebe, von der man gar nicht genug bekommen kann.
Gleichzeitig zeigen sich die Protagonisten zwischen all dem Protzigen, das der Sound manchmal mit sich bringt, sehr verletzlich. "Man fühlt sich mal gut und mal schlecht, das wollen wir auch festhalten", sagt Slimgirl. "Viele Schriftsteller werden auch gefragt, ob der Roman jetzt autobiografisch sei. Im Endeffekt entsteht ja alles in unseren Köpfen, ist also auch ein Teil von uns."
Aber jedes Stück für sich nehme auch seine ganz eigenen Rollen ein und würden so zu fiktiven Rollen, mit denen sich jede und jeder identifizieren könne. "Ich mag es, damit zu spielen und das auch ein Stückweit offen zu lassen."
Wenn die drei an dem ersten verregneten Herbsttag des Jahres so vor einem sitzen, wird einem klar, dass so viel in ihnen steckt, das nicht einfach irgendwie raus will – sondern so ästhetisch wie möglich. Sei es bei ihrer Musik selbst oder wenn sie darüber reden. Ein bisschen fühlt man sich wie in einem kunstkonzeptionellen Seminar, dass gerade versucht, die Post-Post-Moderne der Musik zu kreieren.
Losgelöst von Spotify, dem hochglanzpolierten und rastlosen Schnellkonsum.
Sie wollten keine Singles schreiben, sondern ein zusammenhängendes Werk. Auch hier verbirgt sich implizit ein höherer Anspruch, nämlich, sich den äußeren Zwängen, den Trends, zu widersetzen. "Wir wollten eine ganz eigene Soundwelt schaffen", fasst es Walter dann auch ohne Umschweife zusammen. Klanglich sind wir hier auch meilenweit entfernt vom perfekt durchproduzierten Sound der Hochglanz-Charts.
Das ist auch gut so. Verschrobelte, raue Samples, wie ein Herbststurm schwirren sie einen um die Ohren. Ein Rätsel, das sich mit jedem Hören mehr erschließt. Und plötzlich ist es wieder aufregend ein Album zu hören – weil es keine Auflistung von einem Spotify-konstruiertem Hit nach dem nächsten ist.
"Wir wollten es uns auch irgendwie leisten, ein Album machen zu können," erklärt Walter. Das Album sei dreckiger und unkonventioneller als die EP und würde auch anecken. Wie aus der Zeit gefallen wird man erst im Outro "Emerge" im Tempel willkommen geheißen – gut Ding braucht eben Weile. Trotzdem wirken die Songs keinesfalls abgehoben oder artifiziell, sondern vielmehr, als kämen sie direkt von der Straße. "Wir wollten ein Werk schaffen, das forever-lasting ist – in unserem Sinne zeitlos", verkündet Slimgirl Fat.
Dass sie diesen Anspruch entwickelt haben, liegt vielleicht auch vor allem daran, dass sie sich endlich mal Zeit genommen haben. Im Gegensatz zur EP, wo alles einfach nur schnell, schnell gehen musste. Für die Texte und Beats zum Album hätten sie sich sogar in eine Art Bootcamp zurückgezogen, erklärt mir Blaqtea. "Nalan [Slimgirl Fat, Anm. d. Red.] und ich schreiben die Texte getrennt voneinander. Wir haben uns jeder in sein eigenes Zimmer zurückgezogen – dann haben wir es uns vorgestellt und daran gearbeitet: Was kann man übernehmen, was verbessern – es war ein sehr konstruktiver Prozess."
Es ist ein Spiel mit Referenzen und Bekannten, mit vielen Leerstellen, die sie versuchen zu füllen.
Dazu kamen dann auch die unzähligen Schnipsel und Sampels, die jedem Song einen eigenen Charakter verleihen. "Wir sind definitiv etwas nerdiger geworden, was Referenzen angeht. Jetzt ist es, glaube ich, viel schwieriger geworden, herauszufinden, woher was kommt", sagt Walter, der als Produzent schließlich die meisten der Samples zusammenfügt.
Das zieht sich durch das Album. Wenn man etwa den Anfang von "Skimask" hört, ist das Gehirn im Grübelmodus. 'Verdammt, irgendwoher kenne ich das. Oder ist es doch neu?' Wenn man Gaddafi Gals für etwas kritisieren mag, dann vielleicht, dass sie durch ihre endlosen Referenzspielräume so viel Verwirrung mit den eigenen musikalischen Kontexten stiften, dass man sich nichts mehr sicher ist.
Und da wären wir wieder beim Rumrätseln und dem Mystischen. "Wir als Gaddafi Gals, wir funktionieren als Mysterium", war der erste Satz den Blaqtea im Gespräch fallen ließ. Dass sie zu dieser Art von Sound, die fast schon Genre-fluid ist, gefunden habEN, ist vielleicht auch ihrer musikalischen Sozialisierung geschuldet.
"Wir sind ja auch mit dem Internet und Musik downloaden aufgewachsen", sagt Walter. Es ist eine Generation, die sich ihre musikalischen Bezugspunkte und Inspirationen zum ersten Mal von überall her zusammensuchen und bereitlegen konnte, wie es für sie passt. Es waren die Anfänge des grenzenlosen Musikkonsums, den wir heute haben. Diesen Übergang und den damit einhergehenden Kontrast haben alle drei Musiker*Innen zu spüren bekommen.
Input aus dem Teletext
"Ich habe mir früher immer Sachen aus dem Teletext zusammengesucht", sagt Blaqtea und man mag es kaum glauben, was sie weiter erzählt: "Da gab es die Top 50 Hip-Hop USA. Das war mein Geheimding. Ich wusste die Teletextnummer davon sogar auswendig. Jede Woche habe ich da nachgeschaut und wusste so, was die neusten coolen Tracks waren und hab sie mir dann zusammengesucht. Ich hatte immer den neusten Shizzle!"
Man hatte damals eben noch komplett andere Formeln, um an Musik zu kommen. Produzent Walter habe sich zum Beispiel eben Listen aus Rezensionen zusammengestellt mit den Tracks, die der Rezensent für besonders gut empfunden hat. "Ich hatte endlose Listen und wollte alles haben. Vielleicht kommt auch daher unser Faible fürs Versteckspielen."
Wer das als banal oder nicht ausgereift abhandelt, hat etwas grundlegendes bei Gaddafi Gals nicht verstanden. Alles ist durchdacht – wenn etwa im titelgebenden Stück "Temple of Love" Die Zeile “Be my apple pie ‘til the day I die” bis zum Geht-nicht-mehr wiederholt wird, sodass es fast schon nervt, dann kann man das durchaus auch als Kulturkritik an unseren ständig gleichen kleinen Ritualen des Alltags werten – ob in der Mall, im Park oder bei dir Zuhause.
Genau daher rührt auch der Titel des Albums, wie Sängerin Slimgirl erklärt. "Es ist ein mediativer Ort. In sich zurückkehren, zur Ruhe finden und sich auch mit sich selbst beschäftigen, sich Zeit zu nehmen." Zugleich wollte man damit aber auch den Spirit von modernen Orten, die in gewisser Weise auch zu einer Art Tempel werden, wie Blaqtea meint. "Einfach ein Ort, an dem auch gewisse Rituale stattfinden. Das sind heute eben andere Orte als früher", sagt Walter.
Politisch, ohne es zu wollen
Hinter den emotionalen Texten über Liebe, toxische Beziehungen und Freundschaft verbirgt sich aber auch jede Menge politisches Statement, unterschwellig und fein akzentuiert. Statt im Ferrari wird in einem Mitsubishi gecruist und damit auch die Teilhabe der Menschen mit etwas weniger Kohle zelebriert.
"Es stand aber nie im Raum, dass wir apolitisch sind. Können wir auch gar nicht sein, sind wir einfach nicht. Das Privileg haben wir nicht", bringt es Rapperin Blaqtea auf den Punkt. Allein die Tatsache, dass sie und Sängerin Slimgirl als zwei People-of-Colour-Frauen auf der Bühne stehen und performen, politisiert schon. Zudem hätten immer auch die eigenen Erfahrungen Einfluss auf die Lyrics. Das bedinge sich alles gegenseitig.
"Ich finde es auch sehr wichtig, sich das Recht rausnehmen zu können, zu sagen: Wir verstehen uns in erster Linie als Künstler*Innen und deswegen ist es uns wichtig, in erster Linie eine neue Soundästhetik zu finden", fügt sie hinzu. Das schließt sich auch nicht aus. Ganz im Gegenteil, die Gals führen ziemlich gut vor, wie beides geht: Kunst und Politik zusammenzuführen.
Am Ende ist "Temple" vor allem eins: der perfekte Soundtrack für regnerische Herbsttage. Wenn man sich einfach zurückziehen will, über die Welt grübeln und sich vom ganzen schnellen Alltagswahnsinn abkapseln möchte. Denn auch darauf machen die Gals aufmerksam.
"You leave your ego behind", singt Slimgirl Fat beschwörend in "Hit On Me", und das klingt fast so wie ein Credo, das man zu erfüllen habe, um in den Kreis der Gals einzukehren. Kollektiv statt ich – und trotzdem hat ein jeder Bedürfnisse, wie der Song "Lotus" klar macht: "Go higher, make me feel."
Nichtsdestotrotz bleiben sie ein Rätsel, das man wohl nie ganz entschlüsseln wird.
Bock auf noch mehr avantgardistische Gedanken, die so nah am Zeitgeist sind, weil sie sich ihm widersetzen, hat man trotzdem. Eigentlich sollte das Cover ihrer Albums ein Gemälde der drei sein, gehalten im symbolistischen Stil des Malers Arnold Böcklin. Slimgirl Fat hat Kunstwissenschaften studiert, und vielleicht ist deswegen auch alles ein bisschen artifizieller als man es von anderen Genre-Hybrid-Acts kennt.
Wenn Gaddafi Gals als Band ein Gemälde wären, was wäre es denn dann, jetzt so im Nachhinein? Alle drei grübeln. Schließlich sagt Slimgirl: "Ich mag den Gedanken, dass wir uns im performativen Bereich ansiedeln." Okay, also Tanz und Aufführungen. "Am Anfang hat es da an Quellen und Referenzen gemangelt, und die, die man hatte, waren extrem wertvoll. Der Gedanke passt, glaube ich, ganz gut zu uns, dass es etwas Besonderes ist. Es ist ein Happening, und entweder ist man dabei oder man kriegt gar nichts davon mit."
Wir sind so was von dabei.
Hier kannst du "Temple" von Gaddafi Gals in voller Länge auf Spotify hören.