Von Sabine Hebbelmann
Rhein-Neckar/Darmstadt. Der Biologe Dr. Christian Storm forscht an der TU Darmstadt im Bereich Vegetationsökologie und hat am "Runden Tisch Wald" der Stadt Darmstadt mitgewirkt. Statt auf "Wunderbaumarten" setzt er in der Klimakrise auf eine Stärkung des gesamten Ökosystems Wald. Gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung erläutert der Wissenschaftler den Weg, den die Stadt nun eingeschlagen hat.
Ähnlich wie das Waldgebiet Schwetzinger Hardt südwestlich von Heidelberg ist der Darmstädter Stadtwald in einem besonders schlechten Zustand. Woran liegt’s?
Die
Oberrheinebene ist ein klimatischer Hotspot, der sandige Boden
speichert kaum Wasser. Als naturferner Kiefernforst hat der Westwald
wenig Widerstandskraft und ist anfällig für Klimaextreme.
Und der Ostwald?
Der befindet sich am nördlichen Ausläufer des Odenwaldes,
wo der Boden mehr Wasserspeichervermögen hat. Dieser gewachsene Wald
ist relativ naturnah. Das Kronendach ist weitgehend geschlossen, die
Buchen und anderen Laubbaumarten sind – auch dank des Waldinnenklimas –
in einem besseren Zustand.
Hat die Buche mit Blick auf den Klimawandel noch eine Zukunft?
Viele
ältere Buchen sind geschädigt, deswegen gibt es die Sichtweise: Wir
brauchen eine andere Baumart. Junge Bäume können sich jedoch anpassen
und tiefere Wurzeln ausbilden. Und direkt neben geschädigten Buchen
wachsen oft gesunde Individuen. Untersuchungen zeigen, dass diese
genetisch besser angepasst sind.
Sollte man nicht eher auf Baumarten aus anderen Klimazonen setzen?
Wir betreiben "Waldbau", als wäre der Wald ein Baukasten und als wüssten wir genau, was in hundert Jahren sein wird. Statt den Blick auf einzelne Baumarten zu richten, müssen wir dahin kommen, das System als Prozess zu sehen und als Ganzes zu stabilisieren. Der Wald ist mehr als eine Ansammlung von Bäumen, er ist ein ganzes Ökosystem. Der Königsweg ist die Naturverjüngung. Bei Tausenden Keimlingen findet eine natürliche Selektion klimastabilerer Baumindividuen statt.
Was macht einen naturnahen Wald aus?
Der naturnahe heimische Wald hat sich in Jahrtausenden entwickelt und ist ein komplexes System. Die Bäume produzieren Streu, die von Regenwürmern und vielen anderen Bodenlebewesen zersetzt wird. Der entstehende Humus speichert Wasser und Nährstoffe und kann über Jahrhunderte stabil bleiben. Hier liegt die Lebensversicherung für den Wald von morgen. Jeder Eingriff muss daher sorgfältig überlegt sein. Ein Beispiel: Da die amerikanische Roteiche nicht angepasst ist, zersetzt sich ihre Streu kaum, was den Nährstoffkreislauf stört. Das Waldökosystem wird aber nur mit der Klimakrise zurechtkommen, wenn es insgesamt funktioniert.
Was hat ein naturnaher Wald der Klimakrise entgegenzusetzen?
Ein
geschlossenes Kronendach ist wichtig für das Waldinnenklima und eine
geringe Humusabbaurate und auch dafür, dass sich lichtliebende invasive
Arten wie der Götterbaum nicht weiter ausbreiten. Dieses Waldgefüge kann
durch Holzernte oder wohlgemeinte forstliche "Pflege" gestört werden.
Selbst abgestorbene Bäume haben noch eine Funktion: Sie beschatten den
Boden, und umgeknickte Stämme und herabgefallene Äste schützen
nachwachsende Bäume vor Wildverbiss. Als Totholz saugen sie sich unter
günstigen Bedingungen mit Wasser voll und stabilisieren das
Waldinnenklima.
Kann uns der Wald sogar beim Klimaschutz helfen?
Ja,
sicher, wir müssen ihn nur wachsen lassen und dafür sorgen, dass das
Totholz im Wald bleibt. Dieses zersetzt sich nur langsam zu Humus, der
Kohlenstoff langfristig bindet. So kann der Wald ein gigantischer
CO₂-Staubsauger für die entscheidenden nächsten 20 Jahre
sein. Auch wirklich langlebige Holzprodukte können einen Beitrag
leisten. Sehr kritisch ist hingegen die Holzverbrennung. Der Atmosphäre
ist egal, ob das CO₂ aus Kohle oder Holz stammt. Und in den nächsten 20 Jahren wächst kein neuer großer Baum heran, wenn wir einen entnommen haben.
Gibt es weitere Stressfaktoren für den Wald?
Ja,
zu nennen ist der Eintrag von Luftschadstoffen, die Zerschneidung und
Fragmentierung von Waldgebieten, die Befahrung der Waldböden mit
schweren Forstmaschinen, nicht nachhaltige Grundwasserentnahme und der
Verbiss nachwachsender Bäume durch Rehwild.
Was kann die TU Darmstadt beitragen?
Wir
beobachten und dokumentieren und haben Referenzflächen zum
Experimentieren. Beispielsweise breitet sich in den geöffneten Wäldern
Gras aus, das den Aufwuchs behindert. Wir erkunden, ob mit Beweidung die
Naturverjüngung gefördert werden kann.
Stimmt es, dass im Stadtwald von Darmstadt künftig auf Holzproduktion verzichtet wird?
Die reguläre Holznutzung wird vorerst ausgesetzt, damit sich unser besonders stark geschädigter Wald erholen kann. Die Erhaltung hat für uns oberste Priorität. Selbst Bäume, die für die Verkehrssicherung gefällt wurden, bleiben liegen. Die Stadt wirbt um Verständnis dafür, dass der ein oder andere Waldweg gesperrt wird, um nicht zu viel waldgefährdende Verkehrssicherung betreiben zu müssen.
Hintergrund
Um ihren stark geschädigten Stadtwald als intaktes und widerstandsfähiges Ökosystem
wiederherzustellen und zu erhalten, setzt die Wissenschaftsstadt
Darmstadt auf natürliche Prozesse. Der schlechte Zustand des 2000 Hektar großen Stadtwaldes hatte
zunächst Bürgerinitiativen mobilisiert und für öffentliche
Aufmerksamkeit gesorgt.
2019 rief die Stadt einen Runden Tisch mit Akteuren aus Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung und Wissenschaft ins Leben. Es folgten zahlreiche Sitzungen sowie Vorträge von Experten. Dabei gelang es, von einer aufgeladenen Stimmung zu einem sachlichen Diskurs zu kommen. Konflikte wurden herausgearbeitet und Ziele gewichtet.
So einigte man sich 2021 schließlich auf zehn Leitlinien. Dazu
zählt, dass die Baumartenzusammensetzung den natürlichen
Waldgesellschaften entsprechen und die reguläre Holznutzung zunächst
ausgesetzt werden soll. Auch heimische Baumarten, die holzwirtschaftlich
weniger interessant sind, dürfen wachsen.
Ziel ist ein dichterer abwechslungsreicher Wald, der in der Klimakrise bestehen kann. Er soll nicht nur Pilz- und Tierwelt gute Lebensbedingungen bieten, sondern auch den Menschen langfristig den Zugang zu sauberem Wasser, kühler Luft, Lärmschutz und Naherholung sichern.
Für den zukunftsweisenden Umgang der Stadt mit ihrem kommunalen Wald wurde die Stadt Darmstadt vom Nabu mit der Waldmedaille 2023 ausgezeichnet. Der Prozess der Beteiligung wie auch das Konzept der naturnahen Waldentwicklung können als beispielgebend auch für andere Städte und Kommunen gelten. (heb)