So viel Gelassenheit hätte man den notorisch grantigen Wienern gar nicht zugetraut: Die Schlange vor dem ÖBB-Reisezentrum zieht sich durch die halbe Bahnhofshalle. Kaum jemand hier wird heute pünktlich an seinem Reiseziel ankommen, aber nirgends sind lautstarke Beschwerden zu hören. Die Stimmung am Hauptbahnhof entspricht der unter einem Mauervorsprung während eines schnell aufziehenden Gewitters: "Kann man nichts machen", scheinen die meisten hier zu denken, und: "Wir sitzen alle im selben Boot." Es ist das Boot, in dem vor wenigen Tagen noch die Münchner saßen. Die deutsche Regierung hat nun die Wiener hineingesetzt.
Mindestens 20 000 Flüchtlinge sind laut Innenministerium allein am Montag in Nickelsdorf und Heiligenkreuz an der ungarischen Grenze angekommen. Und weil Deutschland am Sonntagabend Kontrollen an den Grenzen zu Österreich eingeführt hat und die Züge zwischen den beiden Ländern nur noch unregelmäßig fahren, sind viele von ihnen in Österreich gestrandet. Die Stadt Wien habe die Zahl der Notschlafplätze innerhalb weniger Tage von 700 auf 7000 verzehnfachen müssen, sagt Alexander Seidl, der Sprecher des Wiener Flüchtlingskoordinators. ...