Anna A. ist 32, hat zwei Kinder und lebt in einem Dorf irgendwo in Österreich. Trotz Matura hat sie hier keinen passenden Job gefunden, also arbeitet sie als Verkäuferin - Teilzeit, denn der Kindergarten im Ort ist nur halbtags offen. Anna A. und ihr Mann verdienen zusammen 24.000 Euro netto im Jahr. An Urlaub ist seit der Geburt der Kinder nicht zu denken, und der alte Computer wird noch eine Weile halten müssen.
Anna A. gibt es nicht - aber es gibt viele wie sie in Österreich. 198.000 Menschen, gut jeder zwanzigste arbeitende Erwachsene, waren im Jahr 2011 trotz Job armutsgefährdet; in ihren Haushalten lebten auch 171.000 Kinder. Geht es nach den Grünen, werden diese Menschen nun zum Wahlkampfthema: Am Tag der Arbeit forderte Grünenchefin Eva Glawischnig einen gesetzlichen Mindestlohn von 1.450 Euro brutto für Vollzeitjobs. 20 von 27 EU-Ländern haben bereits Mindestlöhne, Deutschland wird wohl bald einen einführen. Sollte Österreich nachziehen? Wie kann gesichert werden, dass auch Familien wie die von Anna A. von ihren Jobs leben können?
Die EU-Studie „Community Statistics on Income and Living Conditions" (SILC) definiert „Working Poor" als Menschen, die mindestens das halbe Jahr erwerbstätig sind und deren „äquivalisiertes Haushaltseinkommen" - eine Maßzahl, mit der verschieden große Haushalte verglichen werden können - netto inklusive Sozialleistungen trotzdem unter der Armutsgrenze liegt. Für eine alleinlebende Person lag diese Grenze 2011 bei 12.791 Euro im Jahr, für eine Familie mit zwei Kindern bei 26.861 Euro.
Dass ein Haushalt unter diese Grenze fällt, kann viele Gründe haben. Bei Anna A. liegt es an der unfreiwilligen Teilzeitarbeit. Brigitte B. steht für einen anderen Typ von Working Poor: Sie hat mit 53 Jahren ihre Stelle verloren und pendelt nun zwischen Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlten Jobs bei Leiharbeitsfirmen hin und her. Christian C. wiederum schlägt sich als Neuer Selbständiger mit Werkverträgen und Freien Dienstverträgen durch; Selbständige werden öfter arm als Unselbständige. Aber Christian C. ist jung und gebildet - mit etwas Glück wird er bald mehr verdienen.
Wenig überraschend werden neben schlecht ausgebildeten Menschen und Migranten am häufigsten jene Menschen trotz Arbeit arm, die Teilzeit arbeiten oder sich von einem befristeten Job zum nächsten hanteln,. Aber fast die Hälfte aller Working Poor sind ganzjährig vollzeitbeschäftigt. Sie sind Alleinerzieher, haben viele Kinder oder einen arbeitslosen Partner - oder aber sie bekommen besonders niedrige Stundenlöhne. Nicht armutsgefährdete Menschen verdienen im Durchschnitt 13 Euro brutto pro Stunde, Working Poor nur neun Euro.
International steht Österreich bei Working Poor - wie bei der Arbeitslosenrate - relativ gut da. 2011 waren im EU-Schnitt 8,9 Prozent der Erwerbstätigen arm, in Österreich nur 5,4 Prozent. Die Zahl ist in den letzten Jahren sogar leicht geschrumpft - aber nicht wegen höherer Löhne, sondern weil Menschen mit prekären Jobs in die Arbeitslosigkeit abgerutscht sind.
Viel höher wäre die Zahl der Working Poor allerdings, wenn Sozialleistungen nicht eingerechnet würden. Die helfen vielen Haushalten über die Armutsgrenze - oft bedeutet das aber auch, dass „der Staat Firmengewinne subventioniert", sagt Sabine Oberhauser, Vizepräsidentin des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB).
Würde ein gesetzlicher Mindestlohn den Working Poor nun helfen? Nein, sagen beide Regierungsparteien, die Wirtschaftskammer und der ÖGB in seltener Einigkeit. Neben den Grünen fordert nur das BZÖ einen gesetzlichen Mindestlohn. Denn im Gegensatz zu Deutschland funktionieren in Österreich die Lohnverhandlungen durch die Sozialpartner relativ gut, 95 Prozent aller Arbeitnehmer sind von einem Kollektivvertrag erfasst.
Trotzdem gibt es auch hier Branchen mit extrem niedrigen Löhnen: Rechtsanwaltsgehilfen etwa verdienen in Wien anfangs 1.024 Euro brutto - 869 Euro netto - und liegen damit auch mit Vollzeitarbeit unter der Armutsgrenze. Für sie würde der von den Grünen geforderte Mindestlohn eine Verbesserung bringen, ebenso für Kellner, Verkäufer, Friseure und Floristen.
Mit dem wirtschaftsliberalen Argument, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze gefährden, kann die Grüne Arbeitnehmersprecherin Birgit Schatz wenig anfangen: „Leute mit wenig Einkommen geben all ihr Geld aus", sagt sie, „höhere Mindestlöhne gehen eins zu eins in die Kaufkraft und bringen wirtschaftliche Impulse".
Im Gegensatz zu Deutschland sind hierzulande aber auch die Gewerkschaften gegen gesetzliche Mindestlöhne. Berichte, wonach der ÖGB in dieser Frage schwanke, dementiert Vizepräsidentin Oberhauser. Der ÖGB hofft, wie auch SPÖ-Sozialminister Rudolf Hundstorfer, durch KV-Verhandlungen statt durch Gesetze einen Mindestlohn von 1.500 Euro zu erreichen.
Aber was stört SPÖ und Gewerkschaft an gesetzlichen Mindestlöhnen, die ja auch nach Vorstellung der Grünen die Kollektivverträge nicht ersetzen, sondern nur nach unten absichern sollen? „Wir glauben nicht, dass so etwas hält, wenn Regierungen wechseln", sagt Oberhauser, „Wenn Schwarz-Blau-Stronach kommt, gehen die sofort auf 1.000 Euro runter". In Griechenland wurde der Mindestlohn tatsächlich im Rahmen eines Sparpakets von 4,34 Euro auf 3,35 Euro pro Stunde gekürzt.
Das Risiko, dass so etwas auch in Österreich passieren könnte, ist für die Grüne Birgit Schatz aber vernachlässigbar: „In einer totalen Krise würden die KV-Löhne auch nicht halten", sagt sie, „aber wenn es einmal einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dass man von einem Vollzeitlohn leben können muss, kann man den nicht so leicht wieder aufbrechen".
Falter, 15.5.2013