Das Kino der Opfer" nennt es der Filmemacher Usama Muhammed in seinem Dokumentarfilm „Silvered Water. Syria Self-Portait" von 2014. Muhammed, der im Pariser Exil lebt, hat ihn zusammen mit seiner kurdischen Kollegin Wiam Simav Bedirxan gedreht, die sich im belagerten Homs befindet und dort weiter als Grundschullehrerin arbeitet. Zu dem Zeitpunkt, an dem ihr gemeinsames Filmprojekt seinen Anfang nimmt, haben sie sich noch nie persönlich getroffen. Sie stehen nur online miteinander in Kontakt.
Bedirxan fragt Muhammed, was er denn filmen würde, wäre er vor Ort. Muhammed, geplagt von Schuldgefühlen und Schmerz, antwortet, und Bedirxan beginnt zu filmen. Doch sie ist nicht die Einzige. „Silvered Water", heißt es, sei von 1001 Syrern gedreht worden und ist auch eine Collage aus Handyaufnahmen. Zu sehen sind Videos von euphorischen Protesten, die in einem Blutbad enden: rohe, ungefilterte Gewalt - „Das Kino der Opfer".
Ich hätte den letzten Satz auch anders beginnen können: Wir sehen Videos von euphorischen Protesten, die in einem Blutbad enden. „Wir sehen", anstatt „zu sehen sind". Die erste Variante setzt voraus, dass man auch hinsieht, die zweite führt fast zwingend zu der Frage von Zeugenschaft und was daraus folgen muss.
In den vergangenen Wochen musste ich wieder an diesen syrischen Film denken. An Muhammed in seinem Pariser Exil, der sich diese Videos ansieht. Videos aus einem Land, in dem Journalisten nicht berichten dürfen. Videos, die zu Hunderten, zu Tausenden auf Youtube, Facebook und Twitter hochgeladen wurden.
Vergleiche mit Syrien werden, wenn es um die Proteste in Iran geht, entschieden zurückgewiesen. Schließlich sei es nun mal ein anderes Land, mit einer anderen Geschichte, einer anderen Bevölkerung und einer anderen Komplexität, heißt es unter anderem. Von den Protesten gegen Assad und was aus ihnen geworden ist, etwas für die Proteste gegen die Mullahs und was aus ihnen werden wird, abzuleiten, sei dumm.
Dennoch sind beide Länder miteinander verknüpft. Mehr als tausend iranische Kämpfer sollen an der Seite von Assads Truppen in Syrien gefallen sein. Iranische Soldaten waren mit ihrer Proxy-Miliz der Hizbullah in Syrien daran beteiligt, die Proteste gegen das Regime niederzuschlagen. Das ist aber noch nicht alles. Teheran gewährte dem Assad-Regime Kredite in Milliardenhöhe, lieferte Waffen und ideologisches Futter für den Krieg, den es als internationale schiitische Front gegen den sunnitischen Unglauben darstellt.
Der Iran ist weniger abgeschottet als es scheintNatürlich hat sich das auch geostrategisch für Iran gelohnt. Der Einflussbereich des Regimes erstreckt sich jetzt nicht nur bis nach Libanon, sondern reicht über die Golanhöhen bis direkt an die israelische Grenze. Über die syrische Küste wird zudem der direkte Zugang zum Mittelmeer geöffnet. Von Europa aus gesehen mag Iran vielleicht oft wie eine abgeschottete Insel wirken. Doch dieser Eindruck täuscht. Die Einzigen, die abgeschottet wurden, sind die Menschen. Das Produkt „Islamistische Revolution" und mit ihr der Terror wurden fleißig exportiert. Bürgerkrieg, bröckelnde Regime, Krisen, sei es in Libanon, im Irak, Jemen oder Syrien - Iran ließ keine Gelegenheit verstreichen, um mitzumischen.
Und wenn man das Ganze noch einmal von einer anderen Seite betrachtet:
Da ist ein korruptes Regime, das sich nur mit roher Gewalt an der Macht hält. Da sind die Menschen auf den Straßen, die nach Freiheit rufen. Bilder ihrer Körper: ihre Rücken, Arme und Beine, die von Schrotkugeln durchsiebt sind. Berichte über Ärzte, die nur im Geheimen ihrer Arbeit nachgehen und Demonstranten behandeln können. Fotos und Namen Verschwundener. Videos von Beerdigungen, Trauerzügen, die zu Demonstrationen werden.
Trotz aller Unterschiede: Eine Diktatur bleibt eine Diktatur. Die Gewalt ist ihr Wesenskern, ob sie nun syrisch ist oder iranisch. Wir sehen einen blauen Himmel. Wir sehen das Regime in Zahedan und Mahabad auf die Menschen schießen. Wir sehen die leeren Straßen in Hamadan und Kermanschah, weil auch die Lkw-Fahrer streiken. Wir werden Zeugen dieser Verbrechen und eben auch dieses Schreis nach Freiheit.
Solange Bilder zu uns gelangen. So lange, bis das Regime das Internet wieder abschaltet. Solange wir hinsehen. Die Kabel und Glasfaser sind die Nervenbahnen unserer Zeit.