Bei der Präsidentschaftswahl in Argentinien ist ein libertärer politischer Neuling knapper Favorit: Javier Milei. Seine Ideen sind populistisch wie radikal: Steuern weg, Ministerien weg, Zentralbank und Landeswährung abschaffen. Jüngere Wähler bejubeln ihn frenetisch.
Von Roland Peters, Buenos Aires
An der Straßenkreuzung Dorrego und Corrientes, einer der Hauptverkehrsachsen der argentinischen Hauptstadt, verteilt ein Mann mitten in der Menschenmasse 100-Dollar-Scheine. "Aber wo gibt es die Eintrittskarten?", fragt ihn eine Frau, die ihren Pudel an der Leine hält. Sie wird auf die Menschenschlange hingewiesen, die sich mehr als einen Kilometer lang um den Block zieht. Andere freuen sich über die offensichtlichen Blüten mit dem QR-Code des aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten Javier Milei und Konterfei des Bürgermeisterkandidaten seiner Partei auf der einen, und dem Obelisken samt "Libertäre Republik Argentinien"-Aufschrift auf der anderen Seite.
Am heutigen Mittwoch findet in der nahen Konzerthalle der Wahlkampfabschluss von Milei und seiner Partei La Libertad Avanza ("Die Freiheit schreitet voran") statt, am Sonntag wird ein neuer Staatschef in Argentinien gewählt. Eine Frau zündet einen gelben Bengalo, eine Kapelle spielt bekannte Fußballmelodien, Verkäufer bieten Fahnen, T-Shirts oder Plüschfiguren des Ökonomen an, die eine Kettensäge, einen Hammer oder Geld in der Hand haben. Sie wollen schon jetzt an der Vision des 52-jährigen verdienen. Milei hat im Wahlkampf inmitten von Anhängern bei offenem Verdeck mehrfach eine Kettensäge aufheulen lassen - symbolisch für die maximale Schrumpfung des Staates -, schimpft auf "die Kaste" aus etablierter Politik, Oligarchen und Presse, und auf Papst Franziskus als Marxisten. Er ist gegen Abtreibungen, will Waffen legalisieren, glaubt nicht an den menschenverursachten Klimawandel und lässt durchblicken, dass er von Organhandel bis Adoptionen alles dem freien Markt überlassen würde.
Die Inflation in Argentinien steht derzeit bei fast 140 Prozent, eine der höchsten der Welt. Die Armutsrate stieg zuletzt auf über 40 Prozent. Milei verspricht, die Inflation zu besiegen, und zwar mit radikalen Maßnahmen: Weg mit dem Peso, den Steuern und Ausfuhrzöllen auf Exporte; die Zentralbank abschaffen und das Land dollarisieren. Niemand kann schlüssig erklären, wie das funktionieren soll. Der Staat ist hoch verschuldet, die Zentralbankreserven sind schon jetzt leergefegt, der Wirtschaft fehlen sogar die Devisen für Importe. In den 1990er Jahren hatte der Staat weite Teile seines Besitzes privatisiert, davon ist kaum noch etwas übrig. Schon seit Jahren herrscht eine Ernährungskrise. Sollten die Sozialprogramme und öffentliche Bausektor wegfallen, dürfte es noch schlimmer werden.
Doch wegen der wirtschaftlichen Situation, seinen Tabula-Rasa-Plänen, in deren Zuge Milei immer alles und jeden außer den Liberalen und Libertären beschimpft, sowie bildstarker Hilfe mit sozialen Medien, hatte er die Vorwahlen gewonnen. Die Konkurrenten waren zugleich mit windelweichen Konzepten gescheitert und wirkten wie angestaubte Politiker einer anderen Zeit: Trotzdem sind Sergio Massa, der Kandidat und Wirtschaftsminister der regierenden Peronisten, sowie Patricia Bullrich, die bürgerliche Kandidatin, weitere Kandidaten mit Chancen. Favorit ist jedoch Milei. Erreicht keiner von ihnen 45 Prozent der Stimmen oder mindestens 40 mit 10 Prozentpunkten Vorsprung, findet in einem Monat die Stichwahl statt.
Ein Jahrzehnt WirtschaftskriseSeit knapp zehn Jahren rutscht das Land mit kurzen Atempausen von einer Wirtschaftskrise in die nächste, und ihre etablierten politischen Lager hatten in den Augen von Mileis Anhängern ihre Chancen. Die Krise hatte unter der Linksperonistin Cristina Kircher begonnen, der reiche Unternehmer Mauricio Macri machte es viel schlimmer, und auch der zentristische Peronist Alberto Fernández, mit viel Hoffnung und Kirchner als Vize Ende 2019 in den Präsidentenpalast Casa Rosada gewählt, konnte die Hoffnungen auf bessere Zeiten und höhere Einkommen nicht erfüllen. Im Gegenteil.
Erst kam Corona, dann der Ukraine-Krieg und die Turbulenzen am Weltmarkt, sowie in diesem Jahr eine der schwersten Dürren seit Jahrzehnten in der so wichtigen Landwirtschaftsregion, der feuchten Pampa, deren Exporte den Staatshaushalt durch Ausfuhrzölle mitfinanziert. Die Kaufkraft der Argentinier insgesamt ist seit 2017 um mehr als ein Viertel geschrumpft. Dramatisch ist die Situation bei fast der Hälfte der Arbeiterschaft, die informell beschäftigt ist; sie verdienen im Schnitt nur noch die Hälfte. Fast 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung wurde also in den vergangenen Jahren abgehängt. Angestellte verdienen im Schnitt das Doppelte, Staatsbedienstete ebenfalls wesentlich mehr. Sie werden als priviligiert wahrgenommen, und häufig als korrupt.
Milei ist im Zuge der Pandemie und ihren Folgen zur Medienfigur geworden, hat sich vom kritischen Experten gegen die regierenden Peronisten zum Politiker gewandelt. Inzwischen reiht er sich mit seinen Ideen als eigene Figur in die globale rechtsliberale Bewegung ein; ein wenig wie Donald Trump, ein bisschen wie Jair Bolsonaro in Brasilien. Vor einigen Wochen kam US-Journalist und Trump-Verfechter Tucker Carlson nach Buenos Aires, um Milei zu interviewen. Die Libertären, die sich vor allem in Richtung Norden orientieren und jegliche staatlichen Geschäfte mit China beenden wollen, waren elektrisiert. Carlson war wegen seines Verhaltens selbst für Fox News nicht mehr tragbar: Der republikanische Haus-und-Hof-Sender hatte ihn vor wenigen Monaten gefeuert.
Mileis Wahl wäre für Argentinien eine Zeitenwende. Denn seit der folgenreichen Staatspleite 2001, als umfassende Privatisierungen und ein an den Dollarkurs fest gekoppelter Peso am Ende viele Milliarden Dollar an Privatvermögen vernichteten, waren wirtschaftsliberale Ideen vor allem mit ängstlicher Skepsis beäugt worden. Nun aber hat Milei in seinem Beraterteam etwa den Vizewirtschaftsminister von damals. Seinen Chef Domingo Cavallo, ebenso mitverantwortlich für den damaligen Totalzusammenbruch, preist Milei als "besten Wirtschaftsminister der Geschichte". Auch deshalb beäugen ältere Wähler den Kandidaten mit äußerster Vorsicht.
In der Nähe des Wahlabschlusses üben zwei Straßenhändler schonmal für die mögliche Zukunft: "Ein Sandwich ein Dollar", preisen zwei ihre Ware ein paar Meter weiter an. "Bislang hat uns noch keiner einen gegeben, aber wir müssen nur warten. Die kommen bestimmt bald ins Land", sagt einer von ihnen augenzwinkernd. Außerdem stimme es ja, erklären sie, schließlich sei ein US-Dollar in argentinischer Landeswährung inzwischen mehr als 1000 Peso wert. Auf dem Brotberg prangt ein Dollarschein mit Mileis Gesicht. Ein anderer Händler bietet für den Preis zwei große Buttons, etwa "Make Argentina Great Again", "Steuern sind Raub" und "Zerstört kulturellen Marxismus".
Wegen der Skepsis der Älteren ruhen insbesondere bei den jüngeren Wählern die Hoffnungen auf Milei, der sich auch mit den Evangelikalen und den Relativierern der letzten Militärdiktatur verbündet hat. In den einkommensschwachen Familien erhalten viele direkte oder indirekte Hilfen vom Staat, sie sehen sich aber wegen schwindender Einkommen trotzdem als zurückgelassen. Für die regierenden Peronisten, die sich als die Bündnisse für Umverteilung nach unten und soziale Gerechtigkeit sehen, ist das ein historisches Desaster. Der namensgebende Übervater der Bewegung, Juan Perón, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialversicherungen, öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung eingeführt.
"Praktisch alles ist verrottet"
Viele haben Milei über die sozialen Medien kennengelernt: Youtube, Twitter und TikTok. "Ich kenne ihn etwa seit 2020", sagt etwa Agustín Villalobos, der mit einer gelben Milei-Fahne auf einen Kumpel wartet ("Fast alle meiner Freunde sind meiner Ansicht"): "Ich bin voller Hoffnung. Milei ist ein wandelndes Licht für alle, die frustriert sind von der systematischen Verarmung." Der 20-Jährige ist für die Dollarisierung, weil "niemand die Zentralbank kontrollieren kann und wie viel Geld sie ausgibt. Vielleicht in 25, 30 Jahren können wir wieder eine eigene Währung haben." Er beobachte in den gastronomischen Betrieben seiner Familie, wie es seit Jahren wirtschaftlich bergab gehe.
Was denn genau schief laufe? Er fühle sich wie in einem "bürokratischen Feudalsystem", von dem einige wenige profitieren. "Das Leben fast aller wird immer schlechter, aber das der Politiker immer besser. Also läuft irgendetwas schief." Agustín Villalobos hofft insbesondere auf eine Vereinfachung des Arbeitsrechts, davon erhofft er sich eine Aufbruchstimmung, mehr Produktion, einen Aufschwung. "Der Staat funktioniert nicht, praktisch alles ist verrottet", meint er. Die Aussagen decken sich mit Umfrageergebnissen: Nur eine Minderheit will systematisch privatisieren. Die Mehrheit will, dass der Staat präsent ist - aber besser funktioniert als aktuell.
Stundenlang dauert es, dann ist die Halle im Herzen der argentinischen Hauptstadt mit fast 15.000 Menschen gefüllt, vorwiegend Jüngere. Die sind mucksmäuschenstill, als der 83-jährige libertäre Ökonom Alberto Lynch den Präsidentschaftskandidaten als historisch in der Geschichte Argentiniens lobpreist, er ein paar Namen wie den des österreichischen Libertären Friedrich Hayek oder des US-Ökonomen Milton Friedman fallen lässt, von Grundprinzipien des Marktes und der Demokratie spricht. Es erinnert an den Gastvortrag eines emeritierten Professors. "Milei 2023 - die einzige Lösung", steht hinter ihm auf der Leinwand.
Symphonie der Zerstörung
Doch das ist nur der Anfang. Gemeinsam zelebrieren sie danach eine Symphonie der Zerstörung für die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas: Videos von explodierenden Bomben und einstürzenden Hochhäusern werden eingespielt, Sprengungen und Atomtests flackern im Halbdunkel. Alles wird niedergerissen. Schließlich dröhnt ein argentinischer Rocksong über den "Löwen", der "König einer verlorenen Welt" durch die Lautsprecheranlage, währenddessen der Kandidat sich von der hintersten Ecke durch den Innenraum auf die Bühne kämpft. Die Menge wogt hin und her; Milei wird nicht nur empfangen wie ein Rockstar, sondern einmal auf der Bühne angekommen, singt er mit raspelnder Stimme ein paar Songs über die Libertären mit seinen Anhängern.
Als er wieder bei Atem ist, schimpft er auf die Peronisten und die Linken, die Schuld an der wirtschaftlichen Lage seien: "Wir sind auf dem Weg, das größte Armenviertel der Welt zu werden, aber jetzt ist der Wendepunkt", tönt Milei, verunglimpft "Politikerdiebe", die Gewerkschaften, die Journalisten. "Wir sind eine globales Phänomen!", brüllt er in die Mikrofone. "Que se vayan todos, que no quede ni uno solo", singt die aufgepeitschte Menge mit ihrer Ikone: "Alle sollen gehen, nicht einer soll bleiben". Ein zynischer Grundton schwingt dabei mit - schließlich wurde dieser Song 2001 populär - als die Neoliberalen das Land in den Abgrund gewirtschaftet hatten.
Doch Milei verspricht goldene Zeiten mit noch radikaleren Rezepten. Nach der argentinischen Verfassung von 1853 sei Argentinien innerhalb von 30 Jahren zur Weltwirtschaftsmacht aufgestiegen, warum solle das nicht noch einmal gelingen? "In 15, 20 Jahren können wir wie Italien sein. In 20 bis 25 wie Deutschland und dann eine Weltmacht." Als er kurz vor Ende seiner Rede sagt, am Sonntag finde die wichtigste Wahl Argentiniens der vergangenen 100 Jahre statt, hat er womöglich nicht unrecht: Die großen Lithium-Vorkommen in den Anden, grüner Wasserstoff und die gigantischen Gas- und Erdölfelder, sie sind eine historische Chance für das Schwellenland. Die kommende Regierung kann mitbestimmen, wie ausgebeutet und wer davon profitieren wird. Doch um diese Details geht es an diesem Abend nicht. Erst einmal regnet es für den libertären Pampa-Populisten Konfetti. Und am Sonntag wird gewählt.
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