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Am Ende des Regenbogens

In Syrien lebte Medhi in konstanter Angst. Nicht nur, dass der Bürgerkrieg um ihn herum tobte, er musste auch ständig auf der Hut vor Polizeikontrollen sein. Denn Medhi ist homosexuell, und in Syrien drohen ihm dafür Gefängnis und soziale Ächtung. Eines Tages beschloss er deshalb zu fliehen. So kam er nach Deutschland.


Medhi* schaut sich mit großen Augen um. Er trägt ein weit ausgeschnittenes Tank Top im Stars-and-Stripes Muster und bunt geblümte Shorts. Während er seinen Blick schweifen lässt, sagt er, fast, als müsse er es sich selbst noch einmal klarmachen: "Das alles hier ist für uns."

An den Laternenpfählen in der Kölner Altstadt wehen die Regenbogenfahnen bunt im Wind. Die Menschen, die sich unter ihnen zwischen Essensständen entlang schieben, sind ebenso bunt gekleidet. Einige schauen einer Band zu, die auf einer kleinen Bühne spielt. Viele Paare sind Hand in Hand unterwegs: Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Männer mit Frauen, und alle, die noch so dazwischen liegen. Nach einem Alltag voller Angst vor Verfolgung und Bürgerkrieg und einer lebensgefährlichen Flucht aus Syrien hat Medhi es endlich in die, wie er es nennt, „Schwulenhauptstadt“ geschafft. Er ist in Köln und es ist Christopher Street Day.

Medhi ist 13, als er merkt, dass er schwul ist. Zu der Zeit wohnt er in Damaskus, der Hauptstadt Syriens. "Ich kannte damals das Wort >schwul< gar nicht", erinnert er sich. "Ich dachte, ich bin anders als alle anderen. Dass ich der einzige auf der ganzen Welt bin, der so fühlt." Es dauert, bis er nicht mehr das Gefühl hat, etwas grundlegend Falsches zu spüren. Mit 23 findet er im Internet Dating-Portale für Schwule und beginnt, andere Männer zu treffen. 

Danach führt Medhi ein Doppelleben. Er springt zwischen zwei Bekanntenkreisen hin und her: Auf der einen Seite seine schwulen Bekanntschaften, auf der anderen Seite heterosexuelle Freunde, seine Kollegen und seine Familie. Er achtet darauf, dass sich beide Kreise nicht überschneiden. Zwar seien auch in Syrien unter den jungen Leuten und vor allem bei Studenten offene und aufgeschlossene Menschen dabei gewesen, sagt Medhi heute. Aber auch da sei es nur ein kleiner Prozentsatz, der Homosexualität akzeptiere.

Das ist auch nicht verwunderlich, denn Gesetz und Gesellschaft brandmarken Homosexualität als etwas grundsätzlich Falsches. In Syrien ist Homosexualität illegal, sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern gelten als "widernatürlich". Auf der Straße halten Polizisten Passanten oft willkürlich an und verlangen, dass diese ihnen ihre Handys geben. Medhi erinnert sich: "Sie sagen, sie wollen gucken, ob da etwas Illegales drauf ist, zum Beispiel Informationen für die Opposition. Dann gehen sie die Whatsapp-Chats durch und sehen sich die Fotos an. So können sie entdecken, ob jemand schwul ist." Falls etwas gefunden werde, könnten bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen. Das, meint Medhi, werde aber nur selten von den Polizisten durchgesetzt. "Stattdessen wird man meistens erpresst." Wenn man nicht zahle, würden die Polizisten allen erzählen, dass man schwul ist.

Die Polizei hat Medhi nie erwischt. Seine Eltern allerdings schon. "Ich hatte immer Angst, dass meine Eltern es irgendwann herausfinden, und dass das dann ein großer Skandal wird." Ende 2010, als Medhi 24 Jahre alt ist, zerbricht seine erste Beziehung. Ein paar Monate später kriegen seine Eltern mit, wie er weinend mit seinem Ex-Freund telefoniert. Vorher hat er sich immer ausgemalt, wie seine Eltern reagieren würden: Dass sie ihn nicht mehr lieben würden, ihn aus dem Haus schmeißen würden. Aber Medhi hat sich geirrt. Seine Eltern akzeptieren ihn und seine Sexualität: "Ich war unglaublich erleichtert, und heute sind meine Eltern die Menschen, die mir am nächsten stehen und am meisten bedeuten."

Medhi ist inzwischen 30 Jahre alt und lebt in Leipzig, tausende Kilometer von seinen Eltern entfernt. Er ist nicht größer als 1,75 Meter, der Ansatz der schwarzen Haare wandert schon langsam die Stirn hoch. Dafür hat er einen vollen Bart. Er redet selbstbewusst über seine Homosexualität, denn in Deutschland fühlt er sich durch das Gesetz beschützt. "Hier kann ich auf der Straße einen anderen Mann küssen, ohne Angst zu haben." Oder nach Köln fahren und eine Schwulenparade besuchen.

Aber auch hier in Leipzig ist er nicht rückhaltlos offen, denn er hat viele heterosexuelle syrische Freunde in der Stadt. Denen gegenüber hat er sich noch nicht geoutet. "Viele von ihnen sind nicht so aufgeschlossen", erzählt er. "Und ich möchte meine Freundschaft mit ihnen nicht riskieren." Aber in ein paar Jahren, wenn sie länger in Deutschland integriert sind, hofft er, werden sie sich vielleicht ändern. Bis dahin wird er versuchen, seine Sexualität noch vor ihnen geheim zu halten. Mit der Vorsicht, die er in Syrien walten lassen musste, ist das aber nicht zu vergleichen.

Der Blick zurück in seine Heimat hält viele schmerzliche Erinnerungen für Medhi bereit. Er sieht noch einmal, wie der Bürgerkrieg immer weiter eskaliert. Er sieht, wie die Situation auch für ihn selbst immer brenzliger wird. Ein Bekannter von ihm wird gekidnappt und ein Lösegeld von dessen Familie gefordert. Medhi arbeitet als Flüchtlingshelfer bei den United Nations in Damaskus. In der Stadt ist allgemein bekannt, dass die UN ein gutes Gehalt zahlen, und Medhi hat Angst, selbst zum Ziel zu werden. Außerdem erhöhen das Militär und die Polizei wegen der Auseinandersetzungen die Anzahl der Kontrollen auf den Straßen. Dadurch wollen sie Oppositionelle aufzuspüren und neue Rekruten für die Armee zwangsverpflichten. Medhi läuft immer mehr Gefahr, von ihnen geoutet zu werden. Und wie alle anderen Syrer fürchtet er täglich um sein Leben, entkommt Raketen- und Granateneinschläge in nächster Nähe. Zum ersten Mal denkt er an eine Flucht aus Syrien.

Im vergangen Sommer schließlich passiert etwas, das ihn diesen Gedanken in die Tat umsetzen lässt. Medhi ist in einer Beziehung mit einem jüngeren Mann, dessen Vater ein Offizier in der syrischen Armee ist. Als der herausfindet, dass sein Sohn schwul ist, stellt er ihn vor eine Wahl, die keine ist: „Sei hetero oder verlass mein Haus“. Medhis Freund geht. Und er hat Angst um sich und um seinen Partner. Weil Medhi älter ist, könnte der Vater ihn dafür verantwortlich machen, seinen Sohn "pervertiert" zu haben. Medhis Freund drängt ihn, mit ihm zusammen aus Syrien zu fliehen.

Am zehnten Oktober 2015 bricht Medhi gemeinsam mit seinem Freund aus Damaskus auf. Zuerst in den Libanon, von da weiter mit dem Flugzeug nach Istanbul und schließlich in die Stadt Izmir an der türkischen Mittelmeerküste. Dort steigen sie mitten in der Nacht mit Dutzenden anderen Flüchtlingen in ein winziges Boot. "Die Wellen waren ziemlich hoch", erinnert sich Medhi. "Ich dachte, ich würde sterben." Das Boot fährt auf gut Glück weiter, die Orientierung hatte der Kapitän längst verloren. Nach vier Stunden wurden sie von einem großen asiatischen Frachtschiff entdeckt und kurz darauf von der griechischen Küstenwache gerettet und zur Insel Samos gebracht.

Die nächsten zwei Wochen reisen Medhi und sein Freund von Samos über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich bis an die deutsche Grenze. Auf der Reise freunden sich die beiden mit anderen Flüchtlingen an. "Wir waren wie eine kleine Familie, in der sich alle gegenseitig helfen." Dass sie schwul sind, halten die beiden Männer trotzdem geheim.

In Deutschland ziehen sie zunächst von Ort zu Ort, landen zwischenzeitlich in Berlin und schließlich in Leipzig. In der ersten Nacht dort schlafen sie in einer Flüchtlingsunterkunft auf dem Messegelände. Als Andere mitbekommen, dass Medhi und sein Freund schwul sind, werden die beiden beleidigt und angefeindet. Medhi ruft Freunde in Berlin an, die wiederum den Leipziger Verein "RosaLinde" kontaktieren, der sich gegen die Diskriminierung von Homo- und Transsexuellen einsetzt. Teil des Vereins ist auch das „Queer Refugees Network Leipzig“. Dort bekommen speziell Flüchtlinge wie Medhi und sein Freund Hilfe, die wegen ihrer Sexualität diskriminiert oder angegriffen werden. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter gehen auch mit zum Sozialamt oder zur Ausländerbehörde und helfen bei der Suche nach einer Unterkunft. Mit dieser Unterstützung können die beiden jungen Syrer schließlich aus der Flüchtlingsunterkunft ausziehen und bekommen zusammen ein Apartment.

In Leipzig fühlt sich Medhi frei und sicher. Im Februar wurde seinem Asylantrag stattgegeben; dass das so schnell ging, vermutet er, könnte ebenfalls daran gelegen haben, dass er als Schwuler in Syrien politisch verfolgt wird. "Das hier ist mein zweiter Lebensabschnitt", sagt er. "Der erste war in Syrien, jetzt freue ich mich auf meine Zukunft hier in Deutschland." Ab August will er ehrenamtlich Flüchtlingen helfen und, wenn sein Deutsch besser ist, vielleicht als Dolmetscher oder Journalist arbeiten. Und 2023, wenn er nach acht Jahren Aufenthalt in Deutschland einen Anspruch auf Einbürgerung hat, dann möchte er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.

Momentan besucht er täglich einen Deutschkurs, geht zu Konzerten und in die Oper und zu von „RosaLinde“ und dem Queer Refugees Network organisierten Events wie beispielsweise Kochtreffs. Homophobie begegne er dabei nicht, sagt er. Und auch Ablehnung gegenüber Flüchtlingen, gerade in Sachsen ja ein schweres Thema, kriege er kaum direkt mit. Aber Medhi ist sich der heiklen Problematik durchaus bewusst. Seit den Zwischenfällen an Silvester in Köln achtet er beispielsweise darauf, keine deutschen Frauen direkt anzugucken, wenn er unterwegs ist. Er hat Angst, dass ihm das Ärger und vielleicht sogar Schläge von deutschen Männern einhandeln könnte.  Sollte es trotz aller Vorsicht mal zu Missverständnissen kommen, hat er einen Notfallplan. Wofür ihm in Syrien noch Gefängnis und Ächtung gedroht hätte, wird hier für ihn zum Schutz: "Wenn jemand denkt, ich würde eine Frau belästigen, dann rufe ich einfach schnell >Ich bin schwul, ich bin schwul!<." Zur Not würde er den Angreifern sein Handy zeigen, um es zu beweisen.