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Street Fighter

Die Hunde auf Shkodras Straßen warten auf ihr Fleisch. Schon bald werden sie rücksichtslos um die mageren Reste kämpfen, die ihnen die Metzger hinwerfen: Ziegenschädel, halbe Kuhkiefer, undefinierbare Knochen, an denen lose noch ein paar kleine Fetzen Fleisch dranhängen. Dann kennen sie keine Freunde mehr, es geht ums eigene Überleben. Und was noch an dem Knochen, welcher vielleicht mal einem Schwein gehört hat, hängt, brauchen sie, um den Tag zu überstehen.

Sie warten bei den fünf großen, grauen Mülltonnen unter dem orangefarbenen Licht der Straßenlaternen an einer Straßenecke von Shkodras Hauptstraße. Kaum wird es dunkel, versammelt sich die Gang dort, jeden Abend ist es der gleiche Treffpunkt. Es riecht nach verrottendem Fleisch und Abfall. Alte, blank genagte Knochen liegen an der Bordsteinkante. Auf der breiten Hauptstraße rauschen die Autos durch die Pfützen, auf der anderen Seite der Straßen reihen sich Cafés und Wettbüros aneinander. Es wird Abend in Shkodra im Norden Albaniens und die Hunde warten.

Andi ist da, groß und einschüchternd mit dunklen Zeichnungen im Nacken, an den Ohren und um die Augen seines dicken weißen Fells. Er schreitet ungeduldig auf und ab. Auch Bruno ist da. Ein Bein benutzt er gar nicht mehr, ein zweites ist auch verletzt. Er setzt er nur auf, um nicht umzufallen. Vermutlich sind die Verletzungen Folgen der zahlreichen Kämpfe, die er sich an diesem Ort schon mit anderen Hunden aus der Gang geliefert hat. Er ist kleiner als Andi, tritt aber nicht weniger selbstbewusst auf. Und noch andere Hunde treiben sich hier herum, alle dünn und hungrig, und warten. Ihre Zeit ist fast gekommen.

Gleichzeitig läuft Werner ein paar Hundert Meter weiter auf dem Bürgersteig an der Hauptstraße entlang, immer mit sicherem Abstand zu den Mülleimern und der Gang. Werner hat kurzes hellbraunes Fell und ist schlank und schmächtig, so wie die Gangmitglieder auch. Ansonsten hat er aber wenig gemein mit der Gruppe bei den fünf Mültonnen. Die Ohren hängen herab, er schaut sich oft ängstlich um, weicht Menschen aus. Er wirkt wie ein Getriebener, nicht wie ein Treiber. An einem Kreisel angekommen schaut er kurz nach links und läuft auf die Straße. In der Innenkurve des Kreisels hat sich Wasser gesammelt. Werner senkt den Kopf und trinkt, während die Autos an ihm vorbeifahren ohne ihn zu beachten.

Die Gang wird unruhig. Eigentlich sollte es schon soweit sein. Zwei Frauen kommen um die Ecke und versuchen, sich an den Hunden vorbeizuschieben. Andi lässt ein bedrohliches Knurren los. Das hier ist ihr Territorium. Die Frauen bleiben erst stehen, drücken sich dann an der Wand entlang an ihnen vorbei, immer den größtmöglichen Abstand haltend. Sie wollen keinen Ärger. Aber Andi, wirkt weiter unzufrieden. Es wird spät. Da blicken wie auf ein Kommando alle Hunde die Straße entlang. Ihre Nasen zucken. Eine Gestalt kommt mit ein paar vollgepackten Plastiksäcken in der Hand den Bürgersteig entlang in Richtung der Mülleimer gelaufen. Endlich. Der Fleischer ist da.

Werner versucht zu schlafen. Er liegt unter einem alten roten Mercedes, der vor einem Café parkt. Doch so richtig zur Ruhe kommt er nicht. Ständig hebt er den Kopf, schaut vorbeikommenden Leuten hinterher und passt auf, dass ihm keine anderen Hunde zu Nahe kommen. Nach einer halben Stunde ist er wieder unterwegs. Er läuft auf die Straße, diesmal ohne zu gucken. Er sieht die herannahenden Scheinwerfer nicht. Reifen quietschen.

Der Fleischer leert seine Tüten aus. Nicht in einen der Mülleimer, sondern daneben für die wartende Horde. Es riecht nach altem Fleisch. Es sind die Reste, die er in seiner Metzgerei nicht verkaufen kann. Von welchem Tier sie stammen ist bei den meisten nicht auszumachen. Schädel sind dabei, Kiefer, Schenkelknochen, Gelenke. Es ist kein Festmahl, an den Stücken hängen nur vereinzelt ein paar letzte Fleischfetzen dran. Die Hunde stürzen sich auf sie. Wer Andi einen Streifen Restkuh streitig machen will, wird mit einem wütenden Zähnefletschen bedacht. Die Glücklichen, die ein Stück erkämpft haben, ziehen sie sich mit ihrer Beute zurück und suchen sich einen eigenen ruhigen Platz für ihr Abendessen.

In Tirana wurden die Hunde bei Nacht erschossen

Die Gang ist berüchtigt in Shkodra. "Ich sage meinen Gästen immer: Nicht an dieser Ecke lang gehen, lieber in die andere Richtung gehen und den Hunden ausweichen", sagt Florian, Betreiber eines Hostels in Shkodra. Die Metzger werfen ihre Reste immer in die selben Mülltonnen, und teilweise auch für die Hunde extra nebendran. Das merken die sich. Die Anwohner beachten die Straßenhunde kaum. Zu sehr sind sie es gewohnt, sie durch die Straßen ziehen zu sehen. Dabei sind die Hunde ein echtes Problem und teilweise auch gefährlich für die Menschen. Kujtim Mersini, Vorsitzender der Umweltorganisation Protection and Preservation of Natural Environment in Albania (PPNEA) schätzt die Anzahl der gemeldeten Verletzungen von Menschen durch Hundeangriffe auf 100 bis 150 im Jahr. Dabei werden auch häufig Krankheiten übertragen. Die Dunkelziffer der nicht-gemeldeten Angriffe sei vermutlich noch ein ganzes Stück größer, meint Mersini.

In ganz Albanien sind Hunde auf der Straße unterwegs. Zählen ist schwer, es gibt keine offiziellen Statistiken. Die European Society of Dog and Animal Welfare (ESDAW) vermutet, dass es in Albanien 150.000 Straßenhunde gibt. "Es gibt keine Maßnahmen, um die Population einzudämmen", sagt Kujtim Mersini. Im Kommunismus habe es noch Maßnahmen gegeben und die Situation sei nicht problematisch gewesen. Von 1990 bis 2000 sei die Zahl der Straßenhunde aber drastisch gestiegen. 2001 wurde dann ein neues Programm in Tirana, der Hauptstadt von Albanien, und anderen Bezirken eingeführt. "Das war ein grausames Programm. Die Hunde wurden bei Nacht erschossen", sagt Mersini. "Das war beispielsweise problematisch wegen des Lärms." Die Schüsse seien bei Nacht gut zu hören gewesen. Und auch die Schreie der Hunde, wenn sie nur verletzt und nicht gleich getötet wurden. "Bei Nacht konnten die angestellten Schützen nicht so gut Zielen." Außerdem waren dann am nächsten Tag Blutspuren auf den Straßen zu sehen. Das Programm sei nach Beschwerden von Tierschützern recht schnell wieder beendet worden. "Allerdings hatte es einen großen Effekt, die Population zu minimieren." Später wurde das Programm durch ein anderes ersetzt, in dem Hunde gefangen, kastriert und wieder ausgesetzt werden. Das habe zwar auch gut funktioniert, sei aber teuer gewesen. "2012 wurde es gestoppt und seitdem gibt es keine Maßnahmen mehr, die Population zu kontrollieren." Aber nicht nur die Menschen, auch die Straßenhunde leiden. Die meisten seien ausgehungert wegen der großen Konkurrenz um Essensreste, viele haben Krankheiten, und oft würden auch die Hunde von Menschen angegriffen, getreten und geschlagen. Und viele landen irgendwann einmal unter einem Auto. An den Gestank von einem verwesenden Hund, der mitten in der Stadt auf der Straße liegt, gewöhnt man sich in Albanien recht schnell.

Den weißen Mercedes, dem Werner fast unter die Reifen geraten wäre, hat er schon wieder vergessen. Der Fahrer hat die kleine dunkle Gestalt noch rechtzeitig gesehen und ist auf die Bremse getreten. Werner hat das nicht beeindruckt. Er hat ein neues Ziel entdeckt: Eine Verkehrsinsel in der Mitte der Hauptstraße auf Höhe der Mülleimer, umgeben von Hecken. Dort hatte einer aus der Gang einen Kuhunterkiefer hingetragen, um daran zu nagen, aber offenbar das Interesse verloren. Werner nutzt die Chance. Versteckt vor den anderen Hunden knabbert er an dem Unterkiefer. Viel Fleisch ist nicht dran, hauptsächlich kaut er auf Kuhzähnen herum.

Eckhard ist unzufrieden. Er hat kein zufriedenstellendes Stück Fleisch gefunden. Mit seinem schwarzen, dicken Fell ist er im Dunkeln schwer zu sehen, aber umso besser zu hören. Er versucht durch lautes Kläffen andere Hunde davon zu überzeugen, ihm ihre Beute zu überlassen. Ohne Erfolg. Da fällt sein Blick auf die Verkehrsinsel in der Mitte der Straße.

Werner sieht das Unheil erst spät kommen. Gerade nagt er noch am Unterkiefer und plötzlich kommt ein kleiner, schwarzer Hund mit Stummelschwanz kläffend auf ihn zu gerannt. Werner weicht zurück, schaut aus einigen Metern Entfernung zu, wie der andere Hund am Unterkiefer nagt. Die Beute enttäuscht Eckhard. Viel ist am Unterkiefer nicht dran. Ein wenig lustlos kaut er darauf rum, bevor er es sich anders überlegt und wieder in Richtung der Mülleimer läuft. Andi hat ein Stück gefunden, an dem noch etwas Fleisch dranhängt. Eckhard rennt auf ihn zu, kläfft laut. Eben hat diese Taktik funktioniert. Doch anders als der schmale Hund mit kurzem, hellbraunem Fell und Schlappohren lässt sich Andi nicht einschüchtern. Er bellt wütend zurück. Es ist klar, wer hier das Sagen hat. Eckhard verschwindet um die Straßenecke.

Werner hat genug gegessen. Den Unterkiefer hat er fertig abgenagt, nachdem der Störenfried abgezogen war. Mehr wird es heute nicht für ihn geben, hungrig oder nicht. Er legt den Kopf ab. Geschützt von den Hecken um die Verkehrsinsel schläft er ein, während links und rechts die Autos an ihm vorbeirauschen.

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