Deutschen Regionalzeitungen passiert es nicht oft, dass sie in einem Atemzug mit der New York Times genannt werden. Insofern durfte die Rhein-Zeitung durchaus stolz sein. Unter dem Titel Arabellion erschien im vergangenen Frühjahr ein Online-Special zur Situation in vier arabischen Ländern – Untertitel: Was vom Frühling bleibt. Arabellion sei "das erste deutsche Snow Fall" gewesen, sagt Julius Tröger, Multimedia-Redakteur der Berliner Morgenpost. Snow Fall: The Avalanche at Tunnel Creek ging im Dezember 2012 online; die New York Times arbeitete mit diesem opulenten Multimedia-Special ein Lawinenunglück auf, das im Februar 2012 drei Skifahrer das Leben gekostet hatte. Seitdem ist Snow Fall die Referenz schlechthin für multimediales Storytelling. Manche sagen, das Jahr 2013 war "das Jahr 1 nach der Lawine".
Für Arabellion war Rhein-Zeitungs-Redakteur Dietmar Telser drei Monate lang unterwegs, unter anderem in Jordanien. Ein derartiger Aufwand sei "nicht gerade selbstverständlich für eine Regionalzeitung", sagt Julius Tröger von der Morgenpost. Der Lohn: Telser und der für Arabellion verantwortliche Mediengestalter Thorsten Schneiders waren für den Deutschen Reporterpreis nominiert, den das Reporter-Forum jedes Jahr verleiht. Das, wenn man so will, zweite deutsche Snow Fall erschien im Sommer bei Zeit Online: ein Feature anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Tour de France. Zeit Online zeigt unter anderem, wie das Radrennen drei Menschenleben lenkt, etwa das des Besitzers eines an der Strecke gelegenen Hotels. "Die Zusatzelemente sind hier mehr als nur Spielereien", findet Simon Sturm, der beim WDR im Programmbereich Internet arbeitet und im Sommer 2013 das Buch Digitales Storytelling veröffentlicht hat. Unter den Zusatzelementen ist etwa eine Infografik, die erklärt, wie Blutdoping funktioniert.
Formal ähnlich aufgebaut ist Das neue Leben der Stalinallee, das die Geschichte einer Straße erzählt, die heute Karl-Marx-Allee heißt. Diese Zeit-Online-Reportage umfasst vier Geschichten, in deren Mittelpunkt mal ein Mann steht, der heute in der Karl-Marx-Allee Gratiszeitungen austrägt und einst gewissermaßen der Butler des früheren DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker war, mal vier WG-Bewohner, die geboren wurden, als es die DDR nicht mehr gab. Wie Snow Fall und Arabellion zeichnen sich die Zeit-Online-Projekte dadurch aus, dass sie recht benutzerfreundlich sind: Der Leser kann sich kaum verlaufen, er navigiert einfach kapitelweise, indem er von oben nach unten oder von unten nach oben scrollt.
In Deutschland sei der optische Standard von Multimedia-Features mittlerweile hoch, aber was die Verzahnung von Text und Videos sowie die Qualität der Interviews in den eingebundenen Videos betrifft, gebe es "noch Luft nach oben", sagt Michael Hauri. Das solle "gar nicht griesgrämig klingen", ergänzt er. Hauri ist Gründungsmitglied der Produktionsfirma 2470media und gibt Workshops zum multimedialen Erzählen an verschiedenen Aus- und Weiterbildungseinrichtungen. Dass es noch Nachholbedarf gibt, liege daran, dass die Interviews oft von Kollegen geführt werden, die in erster Linie gelernt haben, wie man Texte schreibt. "Die Qualität wird sich verbessern", sagt Hauri. Hauri war als Produzent an einer der eindringlichsten Multimediareportagen beteiligt, die 2013 erschienen sind: Stille Nacht. Die Webdoku-Autorin Lela Ahmadzai blickt hier auf einen Amoklauf des US-Militärangehörigen Robert Bales zurück, der 2012 in der Region Kandahar 16 Afghanen das Leben gekostet hat. Ahmadzai gibt Überlebenden und Angehörigen der Opfer eine Stimme. Finanziert wurden ihre Recherchen vom Spiegel und von der Los Angeles Times, die Teile der Arbeit veröffentlichten. Um das komplette Multimedia-Feature inklusive sehr stiller Schwarz-Weiß-Porträts und Einzelinterviews präsentieren zu können, musste 2470media allerdings noch einen beträchtlichen Betrag in die Post-Produktion stecken.
International einen ähnlich guten Ruf wie die New York Times hat in Sachen Multimedia der Guardian. Kein Wunder, dass die Briten im Mai 2013 die erste große Antwort auf Snow Fall präsentierten. Schon der ebenfalls auf eine Naturgewalt anspielende Titel Firestorm diente als Fingerzeig. Der Guardian blickt hier auf einen durch Buschbrände ausgelösten Feuersturm zurück, der im Januar 2013 Teile Australiens heimsuchte. Ausgangspunkt der drei Monate langen Arbeit an Firestorm war ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie eine Familie in der Küstenstadt Dunalley unter einem Steg im Wasser Schutz vor dem Feuer sucht. Diese Familie erzählt in Firestorm, was ihr während der Katastrophe widerfuhr. Im Unterschied zum "eher textlastigen" Snow Fall spiele bei Firestorm das Visuelle eine stärkere Rolle, sagt WDR-Mann Simon Sturm. Die Texte laufen hier quasi über die Bilder, die das Layout dominieren.
Das zweite große Multimedia-Feature des Guardians war einem der großen Themen des Jahres 2013 gewidmet: NSA Files: Decoded stammt vom US-amerikanischen Guardian-Ableger. Integriert in diese große Geschichte sind Dokumente sowie kurze Videos mit Statements von Politikern, aber auch von Jeremy Scahill, dem bekannten Kriegsreporter und Geheimdienstexperten. "Sehr, sehr detailverliebt" sei dieses Feature gestaltet, sagt Morgenpost-Redakteur Julius Tröger, der einst bei dem Team hospitiert hat, das für NSA Files: Decoded verantwortlich ist. "Trotz einer Fülle von Elementen wirkt es nicht überladen."
Zu den Qualitätsgaranten im europäischen Raum gehört auch der Sender Arte, der im November Fort McMoney startete, ein Online-Spiel mit dokumentarisch-investigativen Inhalten. Angesiedelt ist es in der kanadischen Stadt Fort McMurray, die in einer der weltweit größten Ölsandregionen liegt und durch den Ölsandabbau einen ungemeinen Aufschwung erlebt hat. "Die Meinungen über Dokugames sind geteilt", sagt Michael Hauri von 2470media. "Wer kein Gamertyp ist, findet sie fürchterlich, und auch ich bin tendenziell skeptisch, aber Fort McMoney ist vom Ansatz her wegweisend." Problematisch sei, "dass man sich viel Zeit nehmen muss", findet Simon Sturm. "Aber Fort McMoney weckt Interesse für sein Thema, und das ist das Entscheidende." Der Spieler muss sich entscheiden, ob er ökologischen oder wirtschaftlichen Argumenten den Vorzug gibt. Letztlich laufe es auf die Gewissensfrage hinaus, wie weit man selbst im Ölgeschäft gehen würde, sagt Sturm. Durchaus reizvoll.
Fort McMoney ist auch ein Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Verlagen: "Man muss kooperieren. Um gegeneinander zu arbeiten, ist dieser Markt einfach zu klein", sagt Alexander Knetig, der bei Arte France für die interaktiven Projekte verantwortlich ist. Mit im Boot bei Fort McMoney ist die Süddeutsche Zeitung. Die beteiligte sich zwar nicht finanziell, bewarb das Projekt aber auf süddeutsche.de, brachte eigene Perspektiven ein und lieferte Texte, die das Spiel ergänzen. Die Einschätzung, dass die deutschen Medienhäuser hinterherhinken in Sachen multimediales Storytelling, mag nicht falsch sein. Die Ursache dafür ist aber keineswegs mangelnde Kreativität. Vielmehr sind die Rahmenbedingungen wesentlich schlechter als anderswo: Die öffentlich-rechtlichen Sender sind in ihren Online-Aktivitäten stark reglementiert, außerdem stehen nicht einmal im Ansatz die Fördermittel zur Verfügung, auf die Produzenten in Frankreich und Kanada zurückgreifen können. Beispiel Frankreich: Die französische Regierung stellt im Zeitraum zwischen 2012 und 2016 für zehn rein interaktive Web-Projekte ein Budget von 750.000 Euro zur Verfügung. Das Centre national du cinéma et de l'image animée (CNC), die staatliche französische Filmförderinstitution, unterstützt solche Projekte ebenfalls. Davon können auch Radiosender profitieren, die rein audiovisuelle Inhalte produzieren lassen möchten. Dies tut zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Hörfunksender France Inter. 2013 hat er Le jeu des 1.000 histoires produziert, eine Webdoku, die einer Radio-Gameshow gewidmet ist, die es in Frankreich seit 1958 gibt und die mittlerweile Jeu des 1.000 euros heißt (der Titel hat gelegentlich gewechselt). Produziert wird die Sendung, vergleichbar mit dem in Deutschland bekannten Format Der Preis ist heiß, vor Ort in der französischen Provinz. Für die Webdoku begleitete der Autor und Fotograf Philippe Brault die Produzenten der Show neun Wochen lang bei ihrer Arbeit. France Inter zeigt also, wie eine Show produziert wird, die man sonst nur hört. Herausgekommen ist bei Braults Arbeit aber auch ein Porträt des ländlichen Frankreichs.
Geradezu paradiesisch ist die Situation in Kanada: 100 Millionen Dollar stellt der Canada Media Fund, ein nationaler Medienfonds, jährlich für multimediale Projekte zur Verfügung, das National Film Board of Canada (NFB), ein öffentlich-rechtlicher Filmproduzent, ist in dem Bereich ebenfalls aktiv. Fort McMoney, umgesetzt von der Produktionsfirma Toxa und dem NFB, kostete rund 870.000 Dollar, davon kam mehr als die Hälfte aus öffentlicher Förderung. Kein Wunder, dass Michael Hauri von 2470media sagt, für ein Projekt dieser Größenordnung gebe es hierzulande keine Ressourcen. Seine Produktionsfirma plant für 2014 eine Webdokumentation zum Thema Menschenhandel, die von einer Stiftung, einem Reiseveranstalter und einer Zeitschrift finanziert wird. Das Touristikunternehmen werde "inhaltlich nicht reinreden", insofern sei es "ein legitimer, gangbarer Weg", die Firma zu beteiligen, sagt Hauri. 113.000 Dollar hat jenes Multimedia-Feature gekostet, das 2013 Alexander Knetigs Favorit war. Hollow, produziert von der Dokumentarfilmerin Elaine McMillion, ist der Gemeinde McDowell County in West Virginia gewidmet, es rekapituliert den Verfall einer Stadt, deren Einwohnerzahl im Laufe rund eines halben Jahrhunderts von 100.000 auf 22.000 sank. Finanziert hat diese aufwendige Story unter anderem der West Virginia Humanities Council, eine Non-Profit-Organisation aus dem Bildungssektor. Die Reise in die Geschichte und Gegenwart der Stadt erzählt die Dokumentarfilmerin in sechs Kapiteln und führt den User, wenn er scrollt, über sich zur Seite schiebende Bilder durch die Jahrzehnte. Arte-Mann Knetig findet an Hollow unter anderem bemerkenswert, wie McMillion Archivbilder einbindet. Das Feature ist auch für Leser hierzulande empfehlenswert: West Virginia mag weit weg sein, aber die Ausdünnung von Städten ist kein US-spezifisches Thema.
Und was hat die New York Times 2013 produziert? Derart viel exzellente Multimedia-Features, dass es schwerfällt, eins davon auszuwählen. Für Julius Tröger ragt die Geschichte 4:09:43 heraus. Es ist ein ganz spezieller Rückblick auf das Attentat beim Boston-Marathon im April 2013. Im Zentrum steht ein Foto vom Zieleinlauf des Rennens, das in jenem Sekundenbruchteil entstand, als die erste von zwei Bomben explodierte. In dem Bild sind zahlreiche Läufer und andere Beteiligte markiert, und wenn man die Personen anklickt, gelangt man zu den Geschichten, die sie über den Tag des Attentats zu erzählen haben. "Eine Reportage eines außergewöhnlich guten Reporters hätte das nicht besser lösen können", sagt Julius Tröger.
Indirekt spielt die New York Times auch eine Rolle bei der Redenanalyse, die die Berliner Morgenpost zum Besuch von US-Präsident Barack Obama im Juni in Berlin präsentierte. Der Beitrag war angelehnt an das von den New Yorkern entwickelte Format Anatomy of a Speech. Die Grundidee dahinter: "Kaum jemand will sich im Netz eine 30- bis 40-minütige Rede anhören", sagt Redakteur Tröger. Also nahm die Morgenpost die Rede auseinander und wählte die interessantesten zehn Passagen aus, zu denen die Nutzer springen können. Zu jedem Textblock gibt es eine kurze Analyse. Die Produktion lief unter Hochdruck. "Obama hielt seine Rede am Nachmittag, und sie sollte interaktiv aufbereitet vorliegen, wenn er Berlin wieder verlässt", sagt Tröger. "Das war gegen 22 Uhr."
Anderswo im Hause Springer hat man sich 2013 ebenfalls die Frage gestellt, ob man "mit eher bescheidenen Mitteln" auf ansprechende Weise multimedial erzählen kann. Deutschland, deine Nichtwähler lautete das Ergebnis dieser Bemühungen von Absolventen der Axel-Springer-Akademie. In der Reportage, die anlässlich der Bundestagswahl entstand und auf einer einwöchigen Drehreise basierte, verbanden sie Text, Videos, Fotos und Grafiken. Die Journalistenschüler waren unter anderem dort unterwegs, wo die meisten Nichtwähler leben, und lieferten Tipps für wahlwillige Menschen ohne feste Meldeadresse. Das Ergebnis: wahllos.de – die Bundestagswahl ist zwar längst vorüber, aber das Thema Nichtwählen bleibt natürlich aktuell.
"2013 war das Jahr der vereinfachten, nicht zuletzt tabletfreudlichen Navigation und eines Trends zum 'flat' Design", bilanziert Alexander Knetig. Inspiriert worden sei diese Entwicklung durch das mobile Apple-Betriebssystem iOS 7. "2012 war noch geprägt vom Drang, möglichst viel auszuprobieren, 2013 hat man erkannt, dass Spielereien der Sache oft nicht dienlich sind", ergänzt Simon Sturm. In einem Artikel über die "zehn Lehren" aus der Arbeit an Firestorm schreibt der Guardian, die große Kunst beim Produzieren von Multimedia-Features bestehe darin, sich zu beschränken. Man müsse sich auch mal gegen Redakteure durchsetzen, die dazu tendieren, immer zu viel zu wollen. Think small scheint also in der Regel keine falsche Devise zu sein, in die Richtung argumentierte auch schon Jens Radü, der Multimedia-Ressortleiter von Spiegel Online, in seinen Goldenen Regeln für die Multimediareportage. Wie wird sich das Genre in näherer Zukunft entwickeln? "2014 wird das Jahr der Personalisierung", glaubt Alexander Knetig. Das kann heißen, dass User "in Echtzeit als Objekt in eine Webdoku integriert werden". Dahinter steckt die Idee, dass sich jene Informationen, die etwa die Internetkonzerne über unser Verhalten im Netz sammeln, auch auf positive Art verwenden lassen. Sie in einen journalistischen Beitrag zu integrieren, sei schon jetzt technisch möglich, sagt Knetig. Natürlich gehe das nur, wenn man "mit dem User zusammenarbeitet und nicht gegen ihn". Letzteres tun ja schon Google, Facebook und die anderen.
René Martens ist freier Journalist in Hamburg. Hier geht es zu seinem Twitter-Kanal.