Riggan Thomson hat einen Vogel. Vor mehr als 20 Jahren hat er einen Superhelden namens Birdman in drei erfolgreichen Comic-Verfilmungen gespielt. Seitdem versucht der alternde Schauspieler zu zeigen, dass er mehr ist als ein Action-Star in Strumpfhosen. Er möchte ein Künstler sein, ein Autor und Regisseur, ein gefeierter Charakterdarsteller. Am Broadway will Riggan sich beweisen: Er hat Raymond Carvers "What We Talk About When We Talk About Love" für die Bühne adaptiert. Das Stück inszeniert er selbst, auch eine Rolle übernimmt er. Und er hat noch viel mehr drauf: Wenn er allein ist, kann Riggan fliegen und Gegenstände mit seinen Gedanken bewegen. Zumindest denkt er das. Wahrscheinlicher ist, dass er den Verstand verliert.
Denn, wie gesagt, Riggan, gespielt von Michael Keaton, hat einen Vogel. Und egal, wie viel Herzblut er in sein Theaterprojekt steckt, Birdman verfolgt ihn, buchstäblich, von einem Filmplakat beobachtet Birdman den Schauspieler in seiner Kabine. Seine Superhelden-Stimme spricht zu Riggan, verunsichert ihn, wenn etwas bei den Proben schiefläuft. Und es läuft ständig etwas schief: Sein Hauptdarsteller wird von einem herabfallenden Scheinwerfer halb erschlagen. Als Ersatz springt Mike Shiner ein (Edward Norton in seiner besten Rolle seit "Fight Club"), ein brillanter, aber unberechenbarer Schauspieler, der auf der Bühne säuft, Schlägereien anzettelt und versucht, vor den Augen des Publikums mit der Hauptdarstellerin zu schlafen.
Hinter den Kulissen hat Riggan mit seiner eben aus der Entzugsklinik entlassenen Tochter Sam (Emma Stone) zu kämpfen. Seine Kollegin Laura (Andrea Riseborough) behauptet, dass sie schwanger von ihm sei, und die einflussreichste Kritikerin der Stadt (Lindsay Duncan) erklärt ihm genießerisch, dass sie das Stück zerreißen wird, ohne es überhaupt gesehen zu haben. Denn im Theater, sagt sie, sei kein Platz für Hollywood-Abschaum wie Riggan Thomson.
"Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)" wurde vergangene Woche für neun Oscars nominiert, darunter in den prestigeträchtigten Kategorien Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Bester Hauptdarsteller, Bester Nebendarsteller und Beste Nebendarstellerin. An den Erfolg hat sich Regisseur Alejandro González Iñárritu lange herangetastet. Bekannt wurde der Mexikaner mit den episodenhaften Dramen "Amores Perros" (2000), "21 Gramm" (2003) und "Babel" (2006), in denen unterschiedliche Erzählstränge erst am Ende des jeweiligen Films zusammengeführt wurden. In "Biutiful" (2010) hat Iñárritu dann erstmals eine Geschichte stringent erzählt.
Mit "Birdman", der beim Filmfestival in Venedig Premiere feierte, geht er nun noch einen Schritt weiter: Der Film ist sozusagen eine einzige Plansequenz mit verborgenen Schnitten. Die Kamera von Emmanuel Lubezki, der seit "Children Of Men" und "Gravity" als Spezialist für lange Kamerafahrten gilt, folgt den Figuren durch das Theater, umkreist sie, fliegt mit ihnen über Hausdächer - scheinbar in einer einzigen, ununterbrochenen Einstellung. Das ist nicht nur eine beeindruckende choreografische Leistung, sondern auch eine erzählerische. Denn bald nimmt man die technischen Spielereien nicht mehr bewusst wahr, sondern taucht ein in den hektischen Wahnsinn der Premiere-Vorbereitungen, in dem Fantasie und Realität verschwimmen. Ein jazziges Schlagzeug untermalt die Anspannung und steigert seinen Klang zu einem Donnergrollen, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen.
In solchen Momenten schwankt "Birdman" zwischen Slapstick und Tragik. Waren Iñárritus bisherige Filme von einem geradezu heiligen Ernst gekennzeichnet, darf diesmal auch gelacht werden, wenn auch mit Bauchweh, denn Riggans psychotische Schübe sind ebenso lustig wie bemitleidenswert. Bei einer Probevorführung sperrt er sich aus und landet in Unterhose auf dem Times Square. Videos davon landen auf YouTube und werden 350.000 Mal angeklickt.
Immer wieder scheitern die hochtrabenden künstlerischen Ansprüche des Schauspielers an lächerlich-profanen Widrigkeiten, und doch ist er kein Komödientrottel, sondern eine klassische Iñárritu-Figur, die eine existenzielle Last zu tragen hat. Es ist beinahe heldenhaft, wie er gegen die Ignoranz des Publikums (die im englischen Originaltitel des Films auch so genannt wird, auf Deutsch aber recht unbeholfen mit "Ahnungslosigkeit" übersetzt wurde) ankämpft. Natürlich spielt "Birdman" mit der Biografie des Hauptdarstellers: 1989 und 1992 war Michael Keaton in zwei Tim-Burton-Filmen als Batman zu sehen. Das klingt so ähnlich wie Birdman. Wie der fiktive Riggan Thomson konnte auch der echte Michael Keaton an den Erfolg seiner Superheldenfilme nie anschließen. Mit Ausnahme eines Auftritts in Quentin Tarantinos "Jackie Brown" (1997) hat man den heute 63-Jährigen in den letzten zwei Jahrzehnten selten im Kino gesehen. Als wäre nun seine letzte Chance, sich als Schauspieler zu beweisen - so wie für Thomson im Film -, zeigt Keaton alle Facetten seines großen Könnens. Er leidet und hasst, kämpft und zweifelt, zürnt. Riggan Thomson ist die Rolle seines Lebens.
Trotz der biografischen Parallelen spielt Michael Keaton aber mehr als eine überzeichnete Version seiner selbst. Er verkörpert einen Typus von Hollywood-Schauspieler: den Narzissten, der ohne Anerkennung nicht leben kann. Kunst ist für ihn nur das Mittel zum Zweck. An einer Stelle erinnert sich Riggan daran, wie er einmal mit George Clooney (der auch schon mal als Batman im Kino zu sehen war) im Flugzeug saß, als die Maschine in Turbulenzen geriet. "Ich dachte: Wenn wir jetzt sterben, wessen Gesicht wird dann morgen auf den Titelseiten der Zeitungen zu sehen sein?", erzählt Riggan seiner Ex-Frau. Mitleidig antwortet sie: "Du hast immer Liebe mit Bewunderung verwechselt."
Seine ewig vernachlässigte Tochter ist weniger sanft. "Du bist unwichtig", fährt sie ihren Vater an. "Du bist nicht mal auf Facebook, du existierst nicht!" Die Sozialen Medien versteht Thomson nicht. Er ahnt nur, dass sie ihm höchstens oberflächliche Bekanntheit bringen könnten, so wie einst der verhasste Birdman. Die Bestätigung, die er sucht, kann er nur im Theater finden. Doch dort will ihn die elitäre Kritikerin unter keinen Umständen haben. Sie ist die einzige wirklich unglaubwürdige Figur im Film. Denn dass eine Journalistin den Erfolg eines Broadway-Stücks verhindern könnte, wirkt in Zeiten von Facebook und Twitter, auf die das Drehbuch immer wieder Bezug nimmt, absurd.
Am Schluss muss Thomson die Schnabel-Maske von Birdman doch wieder aufsetzen - wenn auch in anderer Form, als man erwarten würde. Zu diesem Zeitpunkt ist der Film leider schon etwa 20 Minuten zu lang. Es scheint, als wäre Iñárritu, ganz wie seine Hauptfigur, ein bisschen zu sehr in seine eigene Arbeit verliebt gewesen. Vielleicht tastet sich der Regisseur noch immer vorsichtig hin zu einem kurzweiligen, leichten 90-Minüter. Auf dem Weg dorthin ist ihm zwar noch kein ganz großes Meisterwerk gelungen, dafür aber mit "Birdman" sein bisher bester Film.