"Da ist sie ja! Die beste Autorin der Stadt", ruft ein Herr, der gerade das Beisl betreten hat. Ohne um Erlaubnis zu bitten, zieht er einen Stuhl an Stefanie Sargnagels Tisch. Dann schließt er die Augen und kramt ein paar Worte aus dem Gedächtnis hervor: "Die Boys lecken mich, ohne dass ich bitte sag."
Er spricht diesen Satz langsam und bedächtig aus, als würde er ein Gedicht zum Muttertag aufsagen. In Wirklichkeit ist es Sargnagels neuester Facebook-Eintrag. Der Mann wirft den Kopf in den Nacken und lacht auf. "Das ist wirklich brillant!"
Stefanie Sargnagel, die bürgerlich Sprengnagel heißt, sitzt stumm daneben und starrt mit müdem Blick auf ihr Bier. Ist das jetzt schon der Fame? Das ständige Erkanntwerden, egal wohin man geht?
Immerhin war die 29-jährige Wiener Autorin mit der roten Baskenmütze, die vor kurzem ihr zweites Buch "Fitness" veröffentlicht hat, auf den Titelblättern der großen österreichischen Zeitungen. "Der Falter" nennt sie "die lustigste Depressive des Landes". Und Tage später wird Sargnagel mit drei dicken Laufmaschen in der Strumpfhose in der Sendung von Österreichs bekannten Late-Night-Talkern Grissemann und Stermann Platz nehmen.
Oder liegt es doch am Lokal? Dem Café Stadtbahn, einer abgefuckten Zufluchtsstätte für Gossenpoeten und verkannte Philosophen, mitten im gutbürgerlichen XVIII. Wiener Gemeindebezirk? Unter den vielen vergilbten Plakaten an der Wand - hier schiebt Marilyn Monroe ihren aufgewirbelten Rock zurück über die langen Beine, dort werden längst vergangene Punk- und Raga-Abende angekündigt - hängt auch eine Kritzelei von Stefanie Sargnagel.
Sie hängt dort seit bald 15 Jahren. So lange geht die Künstlerin hier bereits aus und ein, mischt sich unter die Nachtgestalten, frönt ihrer Begeisterung für selbstgedrehte Zigaretten und Gösser-Bier. "Dass ich jetzt Erfolg habe, ist absurd", sagt sie mit geschlossenen Lippen, damit ihr der Filter nicht aus dem Mund fällt, während sie die Papers herausfischt. "Ich war jemand, der am Vormittag beginnt, Bier zu trinken. Jetzt steh ich in den Zeitungen."
Ungewohnt ist es halt. Lästig auch irgendwie. Die Termine, die Interviews. "berufliches trinken nervt mich schon (mit journalisten abends beim interview, nach lesungen), das fühlt sich mittlerweile so fremdbestimmt nach arbeit an, dass mir richtig die lust am alk vergeht", beschwert sich Sargnagel im Internet. Anstrengung und Ambitionen sind ihre Sache nicht. Und doch hat sie sich jetzt irgendwie eine Karriere eingehandelt. Wie konnte das passieren?
Angefangen hat es damit, dass Steffie auf die schiefe Bahn geriet, wie sie sagt. Mit 15 ließ das Interesse an der Schule nach. An seine Stelle traten neue Hobbys: im Park sitzen und Enten füttern. Bier trinken. Kiffen. Bloggen. Mehr Bier trinken. Irgendwann wurden die Noten schlechter, die Fehlstunden mehr. Die Direktorin ersuchte höflich darum, dass Steffie die achte Klasse in einer anderen Schule wiederholte. Es folgten ein paar halbherzige Versuche, den Abschluss in der Abendschule nachzuholen. Aber oft bog Sargnagel vor dem Eingang falsch ab, landete in einer der umliegenden Bars und schließlich an der Akademie der Bildenden Künste.
"Ich wollte da nicht unbedingt hin, aber ich wollte auch nicht nicht hin", erklärt sie. "Zumindest waren meine Eltern ein bissl beruhigt, weil ich studierte, ohne die Matura zu haben." Die anfängliche Euphorie, in der Klasse von Daniel Richter zu landen - Sargnagel hielt ihn zuerst für Gerhard Richter -, währte auch nicht lange. "Ich dachte, ich würde auf einen Herd aus Genie und Inspiration stoßen", schrieb sie später. "Dann ging ich pissen und fand als einzigen Klospruch 'Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum' und ich so Facepalm."
Die Realität überhöhen und dann trocken demontieren. Sich selbst und andere als Heuchler entlarven - oder zumindest als sehr ursprüngliche Kreaturen mit den Grundbedürfnissen Fressen, Furzen und Ficken. Das sind Sargnagels Spezialitäten. Auftragsarbeiten für die "Vice" nimmt sie eher widerwillig an, auch wenn daraus herrlich-bissige Reportagen entstehen: Mit feiner Beobachtungsgabe und derbem Schmäh berichtet die Autorin vom "Bodensatz der Wiener Pop- und Proletenkultur".
Sie besucht ein Konzert der brachial-komödiantischen Proll-Rocker Die Hinichen ("Die Kaputten"), infiltriert ein Oktoberfest der rechtspopulistischen FPÖ genauso wie den Opernball. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie bis vor kurzem als Telefonistin im Call Center. Dort wurde sie von Witzbolden und Grenzdebilen heimgesucht, die um Hilfe bei der Suche nach gestohlenen Autos baten oder Sargnagel mit Anliegen wie "Auskunft schicken meine Telefon!" plagten. "Die Menschen lassen sich halt geistig gehen", sagt sie. "Es wirkt nur aufgeschrieben so arg." Also schrieb Sargnagel die Dialoge auf und veröffentlichte sie auf Facebook. Bald folgten ihr mehrere Tausend Menschen.
Das ist schmeichelhaft. Kaufen kann man sich aber nichts davon. Deshalb erschienen ihre Postings vor zwei Jahren auch in Buchform. Illustriert mit anarchischen MS-Paint-Kritzeleien, ist "Binge Living: Callcenter-Monologe" eine Sammlung von Aphorismen und Alltagsbeschreibungen, messerscharf beobachtet, oft völlig belanglos, meistens zum Brüllen komisch.
Das Buch macht sich gut auf dem Nachtkästchen oder auf dem Klo. Man kann es immer mal wieder in die Hand nehmen, ein paar Minuten darin blättern, bevor man es wieder zur Seite legt, erschöpft, leicht angeekelt vielleicht, wie wenn man eine ganze Packung Chips auf einmal gegessen hat, und sich dann wünscht, man hätte sich nicht so gehen lassen.
Leicht verdaulich ist dieser fäkalhumorige Fleckerlteppich nicht. Einen modernen Bildungsroman will die österreichische "Presse" darin erkennen. "Ja, eh", findet die Autorin. "Die Einträge sind sehr real angelegt. Und ein Mensch entwickelt sich halt."
"Binge Living" geriet zum Achtungserfolg. Dass jemand wie Stefanie Sargnagel nun aus der Subkultur ins deutsche Feuilleton gespült wird, hat aber auch damit zu tun, dass das Timing stimmt. Österreichische Pop-Kultur ist en vogue. Stichwort: Wanda. Deren Manager Stefan Redelsteiner ist auch Sargnagels Verleger.
Ein Versuch Redelsteiners, seine Schützlinge bei ein paar Dosen Bier zusammenzubringen, scheiterte sagenhaft. Im Alkoholwahn sprangen sich Band und Künstlerin beinahe an die Kehle. Spätestens seit damals hat man Sargnagel auch über die Grenzen Österreichs hinweg als witz- und wortgewaltige Agentin der Gegenkultur auf dem Schirm.
Ihr neues Buch "Fitness", mit dem sie nun auf Lesetour ist, hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. Es ist nach dem selben Copy & Paste-Prinzip entstanden wie "Binge Living". Am Ende unternimmt die Ich-Erzählerin ein paar Ausflüge aus dem Call- ins Fitness-Center. Ansonsten bleibt alles beim Alten in Sargnagels Welt.
"Die Leute glauben immer, mir ist alles wurscht", sagt sie. Fast wirkt es, als würde sie sich ein bisschen schuldig fühlen. "Aber das stimmt nicht. Nur das, was den meisten Menschen nicht wurscht ist, das ist mir meistens so was von wurscht." Im Buch schreibt sie: "Angst vor dem Tod is was für motivierte Menschen". Er hat schon recht, der Gast aus dem Café Stadtbahn. Das ist wirklich brillant.