In „Poetry Is Not a Luxury" schrieb Audrey Lorde 1985, wie unverzichtbar Poesie ist, um als marginalisierte Person zu überleben - wie Dichtung jeden feministischen Kampf beginnt, wie unabdingbar sie ist, um unsere Sprache zu finden und endlich etwas zu verändern.
Heute, fast vierzig Jahre später, schreiben im Lyrikband „überLIEBEn" 38 Autor*innen zärtlich gegen die normative Kraft der Liebe an. Sie fragen, wie jene Lieben, die sich nicht allabendlich auf großen Leinwänden ihrer Macht versichern, überleben - was sie unterdrückt und was sie bedingt. Taudy Pathmanathan schreibt darüber, wie sich gemeinschaftliche Liebe und Solidarität anfühlen - wie sie uns freund*innenschaftlich auffangen, wenn alle Gefühle einstürzen.
Bei Serpil Temiz Unvar politisiert sich das lyrische Ich, als geliebte Menschen rassistisch ermordet werden. Ein paar Seiten weiter dichtet Schirin Rajabi davon, wie die Angst, den Namen einer vergangenen Liebe zu lesen, einen Menschen zermürbt. Sie endet schließlich mit „Ich starre heimlich / ich bin ein Eisblock / vor Scham - / All das Vergangenheit. / Was für ein Glück."
Wie der Wortspieltitel ist das Vorwort etwas platt geraten. Die Gedichte sind aber liebevoll kuratiert und bringen Stimmen wie die großartige Özlem Özgül Dündar mit noch unbekannten Autor*innen zusammen. Ganz im Sinne unserer autofiktionalen literarischen Gegenwart begleitet dabei eine kurze biografische Notiz jedes Gedicht. So entmonopolisiert diese Blütenlese heterosexuelle, monogame, romantische, weiße Liebe und öffnet einen Blick auf all die Schönheit, die auf den anderen Seiten wartet.
Regine Eurydike Hader
Tamer Düzyol & Taudy Pathmanathan (Hg.) „überLIEBEn" (Edition Assemblage/Haymatlos, 142 S., 14,80 Euro)