125 Jahre nach ihrer Ermordung ist Sisi, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn (1837-1898), omnipräsent in der deutschsprachigen Medienlandschaft: Bücher, Dokumentationen, Filme und Serien erzählen ihre Lebensgeschichte nach. Sisi dient seit über einem Jahrhundert als mythische Kultfigur für zahlreiche Adaptionen. Erstmals kam der Sisi-Mythos 1921 mit dem Film Kaiserin Elisabeth von Österreich in die Lichtspielhäuser. In dem Stummfilm des Münchner Regisseurs Rolf Raffé (1895-1978), bei dem auch die Nichte der Kaiserin, Marie Louise Gräfin von Larisch-Wallersee (1858-1940) mitwirkte, spielte Carla Nelsen die Titelfigur. Bis heute interpretierten dutzende Schauspielerinnen die Rolle der Kaiserin von Österreich: Stummfilmschauspielerin Lil Dagover (1931 in Aldof Trotz Elisabeth von Österreich), Opernsängerin Grace Moore (1936 in Josef von Sternbergs The King Steps Out) und natürlich Romy Schneider (in den 50er-Jahren in Ernst Marischkas Sissi-Trilogie). Seit 2021 verkörpert die schweizerisch-amerikanische Schauspielerin Dominique Devenport die Kaiserin von Österreich in der Fernsehserie SISI des TV-Senders RTL, die nun in die dritte Staffel geht. In dem 2022 erschienenen Historiendrama Corsage von Marie Kreutzer interpretiert Vicky Krieps die vierzigjährige Kaiserin Elisabeth im engen Korsett zwischen Schönheitswahn und ihrem eigenen Älterwerden. Für ihre Interpretation der Sisi-Rolle erhielt Krieps renommierte Preise, darunter den Europäischen Filmpreis 2022 als Beste Darstellerin.
Der Sisi-Boom ist mittlerweile sogar in den Streamingdiensten angekommen. Netflix nahm die beliebte Romy-Schneider-Sissi-Trilogie, die jedes Jahr an Weihnachten - Elisabeth Amalie Eugenie von Wittelsbach, Herzogin in Bayern, wurde am 24. Dezember 1837 geboren - die Herzen erwärmt, in sein Programm auf. Ferner produzierte Netflix die deutschsprachige Miniserie Die Kaiserin, die am 29. September 2022 beim Streamingdienst erschien. Die Kaiserin verkörpert die deutsche Jungschauspielerin Devrim Lingnau. In den ersten Wochen nach der Veröffentlichung brach die Miniserie vor allem international Rekorde.[1] Ende des Jahres platzierte der Streamingdienst Die Kaiserin mit fünf Wochen in den Global Top 10 auf Rang 7 der Most Popular Non-English Netflix Series of 2022.[2] So fanden sich im letzten Drittel des vergangenen Jahres in jeder deutschen Stadt Werbeplakate, die Lingnau als junge Kaiserin inszenierten. An der Berliner Friedrichstraße hing ein kolossales Porträt der Kaiserin, deren Kleid aus echtem, Meter langem dunkelblauen Stoff über den Köpfen der Berliner Passant:innen herab wehte. Sisi ist überall. Nun fand sich die mythische Kultfigur auch auf den 73. Berliner Filmfestspielen.
Auf den 73. Berliner Filmfestspielen 2023 versammelte die Sektion Panorama, die seit 2019 von Michael Stütz geleitet wird, unter dem Motto Tracking the Unseen. Filme als Werkzeuge des Widerstands anhand von dreißig Filmen, eine breitgefächerte Palette an Sujets: Krieg, Revolution, queere Identitäten und weibliche Selbstermächtigung standen im Mittelpunkt. Letzteres thematisiert Frauke Finsterwalders zweiter Spielfilm , der im Rahmen der diesjährigen Berlinale Premiere feierte. Nach dem Studienabschluss in Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München begann Finsterwalder ihre Filmkarriere mit dem Kurzfilm 0.003 km, darauf folgten die Dokumentationen Weil der Mensch ein Mensch ist (2007) und Die große Pyramide (2010). Im Jahr 2013 debütierte Finsterwalder mit Finsterworld im Spielfilm-Genre. Finsterwalder lebt mit ihrem Ehemann, dem Schweizer Schriftsteller Christian Kracht, und der gemeinsamen Tochter in Los Angeles. Um ihrer im Ausland aufwachsenden Tochter die deutsche Sprache näher zu bringen, schauten Mutter und Tochter gemeinsam die Romy-Schneider- Sissi-Trilogie an, wonach Finsterwalders Tochter sie mit Fragen zur österreichischen Kaiserin löcherte. Dies inspirierte die deutsche Regisseurin und Drehbuchautorin zu ihrem fünften Film, in dem sie den Mythos um Kaiserin Sisi neu interpretiert.
Vor dem Hintergrund zahlreicher Auserzählungen der Lebensgeschichte von Sisi, haben Zuschauer:innen eine geformte Erwartungshaltung an einen Film über die österreichische Kaiserin: Eine strahlende Hauptdarstellerin à la Romy Schneider - wobei diese für viele, die einzig wahre Sissi ist und bleibt -, daneben erwarten wir prunkvolle Kulissen, königlich pompöse Paläste à la Louis Quatorze, kitschig ausladend, prächtige und luxuriöse Ballkleider in allen vorstellbaren Farben und die Habsburger Dekadenz in Hülle und Fülle. Finsterwalders Films eröffnet ein stetiges Spiel zwischen Bruch und Erfüllung der Erwartungen der Zuschauer:innen. Und trotzdem, vielleicht deshalb überzeugt.
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