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Feature

Mehr warten als schießen

Jagen, das verbinden viele mit Adrenalin und Trophäen. Sepp und Andrea Obermeier halten es für ihre Verantwortung, Tiere zu töten.

Andrea Obermeier blickt aus dem Hochsitz durch ihre Wärmebildkamera: Im Senffeld bewegt sich ein heller Punkt. Ein Reh. Sie greift nach dem Fernglas, um zu beobachten, wie sich das Tier bewegt: Ist es gesund? Wie alt ist es? Jetzt blickt sie durch das Zielfernrohr ihres Jagdgewehrs. Es vergehen fünf Minuten, zehn, 15. Das Tier frisst, bewegt sich kaum. Es ist etwa 150 Meter entfernt. Sie könnte schießen, kurz hinter den Vorderlauf ins Herz. Dann setzt sie ab. Ein Bock. Den darf sie nicht schießen.
Adrenalinrausch, so stellt man sich die Jagd oft vor. Meistens bedeutet jagen aber: In der Kanzel warten und frieren. Umhergucken. Tiere sehen, die zu weit weg sind, nicht still genug stehen, die man nicht schießen darf, weil die Tiere Schonzeit für die Fortpflanzung haben. Mindestens zwei Mal pro Woche fährt Andrea raus, aber seit zwei Monaten hat sie nichts geschossen. Jagen bedeutet: Man darf keine Erwartungen haben. Man bereitet sich vor und wartet. Aber oft kommt kein Tier. Es bedeutet, machtlos zu sein.
Es ist halb sechs, Nebel zieht auf. Eine Amsel zwitschert – vermutet Andrea, „Dad kann es dir richtig sagen“. Dad, ihr Vater, das ist Josef Obermeier, 61, aber hier kennen ihn alle nur als Sepp. Er ist Vorsitzender des Schützenvereins von Rohr, einem Ort im Landkreis Kelheim, zwischen Regensburg und Ingolstadt. Ein paar Kilometer weiter sitzt auch er auf dem Hochsitz. Andrea und Sepp gehen oft zusammen jagen. Zusammen, das heißt gleichzeitig, aber jeder sitzt allein. Seit 40 Jahren hat Sepp seinen Jagdschein, Andrea seit vier. Beide sagen: Unser Leben dreht sich um die Jagd.
Andrea machte ihren Jagdschein „einfach mal so“: „Mir war klar, dass Jagd Naturschutz ist. Aber die Zusammenhänge habe ich nicht verstanden. Es war einfach das, was Dad macht.“ Doch mit dem Jagdschein änderte sich das.
Früher habe sie sich aufgeregt über die Arbeit. Bei der Jagd vergesse sie das: „Ich passe einfach auf: Was sehe ich? Was höre ich? Ist da irgendwas?“ Sie mag, dass die Jagd sie „brutal entschleunigt“.
Sechs Uhr, Andrea fährt auf den Hof ihrer Eltern und parkt den alten BMW auf dem matschigen Boden. Nach zehn Minuten kommt auch Sepp zurück. Er hat heute ein Reh geschossen.
Wenn Sepp spricht, bewegt sich in dem Gesicht mit der 80er-Jahre Brille nur die Unterlippe, der Bart verdeckt den Rest. Sepp ist wie ein alter Baum, der den Wind an sich vorbeirauschen lässt: Andere können toben, wenn keine Tiere vor das Gewehr kommen. Er lässt den Sturm vorbeiziehen.
Sepp mag, dass er bei Jagd der Natur nah ist: „Wenn du mit Beute zurückkommst, ist das das Tüpfelchen auf dem i. Wenn nicht, dann hast du einfach ein paar Stunden frische Luft geatmet.“
Jagen, das ist auch schießen, ein Tier töten. Jagen bedeutet, absolute Macht zu haben. Der Jäger entscheidet. Hemmung habe Andrea nicht, sagt sie: „Ich habe Zeit und sortiere aus: Ich gucke nach den Schwächsten. Beim Abdrücken ist die Entscheidung schon lange gefallen“.
Der Jäger hat die Verantwortung. Wenn er schießt, muss er es richtig machen. Schnell, präzise, konsequent. „Ich habe relativ große Ansprüche an meine Schießfertigkeit“, sagt Sepp. „Das muss einfach sitzen, dass das Tier schon tot ist, bevor es kapiert, was passiert ist. Das schuldest du dem Tier.“
Von der Ladefläche seines VW Pick-ups trägt Sepp das Reh mit Chris, Andreas Freund, in den weiß gefliesten Schlachtraum. Um zu sehen, wie alt das tote Reh ist, fasst Sepp mit Daumen und Zeigefinger in den Mund und untersucht die Zähne. Er setzt ein Messer an den Hals des Rehs und schneidet die Haut auf bis zwischen die Hinterläufe.
Der Schuss ging durch Herz und Lunge. Das Blut in der Brust dampft in dem Raum, der auf unter zehn Grad gekühlt ist. Nach dem Ausnehmen hängt Sepp das Reh an einen Haken, klemmt einen Metallzylinder zwischen die Rippen und spült das Tier ab. Gestocktes Blut fällt in Brocken auf den Boden. Chris und Sepp schrubben die Blutreste in den Abfluss. Nur der Geruch bleibt.
Nachdem Sepp das Reh ausgenommen hat, geht er ins Wohnhaus. Im Treppenhaus hängen drei Tierköpfe. Einer davon ist ein Wapiti, den Sepp bei seiner Hochzeitsreise in Kanada erlegt hat. Weil er zu groß war für den Koffer, hat Sepp die Nase mit der Knochensäge abgeschnitten und hier zusammengeklebt. Für Sepp zählt, dass die Dinge praktisch sind. Sein Pullover ist siebenmal geflickt, die Flecken von Schweiß und Sauce stören ihn nicht.
„Andrea ist ein Papakind“, sagt ihre Mutter. „Wenn sie nach Hause kommt, ist die erste Frage: ,Wo ist den Paps?‘ “. Andrea sagt: „Ich und mein Dad haben immer wie zwei Arschbacken zusammengehangen“. Sie fuhr mit ihm auf dem Traktor oder saß auf dem Hochsitz. Jagen ist ein Hobby, bei dem man wenig spricht. Auf dem Hochsitz muss man muss still sein, um die Tiere nicht zu verschrecken.
Auch über Gefühle sprechen Sepp und Andrea nicht. Sie beide verbindet die Verantwortung, die für sie in der Jagd liegt. Andrea will nicht meckern über Dinge, die sie nicht ändern kann. Sie will anpacken und ein Ergebnis sehen: „Wir sind vielleicht einfacher gestrickt. Uns geht es mehr um unser Leben und unsere Umgebung. Wir können mit der Jagd der Natur Gutes tun.“