1 subscription and 0 subscribers
Article

Warum Parteien, Gewerkschaften und Kirchen für die Demokratie unverzichtbar sind

Das Votum einer Mehrheit der Briten, die Europäische Union zu verlassen sowie die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben mittlerweile alle Beobachter, ob Politikexperten oder Laien, erkennen lassen, dass unsere gesellschaftliche Ordnung bedroht ist. Und weiteres Ungemach bahnt sich an. Auch die anstehenden Wahlen werden aller Voraussicht nach die Populisten in der ersten Reihe des politischen Systems weiter etablieren.

Ob es nun offene Grenzen, Minderheitenschutz oder das Recht auf Asyl ist; zentrale Errungenschaften unseres demokratischen Miteinanders, die wir über Jahrzehnte mühselig erkämpft haben, werden in Anbetracht dieser zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung offen in Frage gestellt. Man möchte fast meinen: Viele unveräußerlichen Rechte sind neuerdings veräußerlich.

Doch angesichts dieses gesellschaftlich-politischen Existentialismus, vor dem wir stehen, regt sich Widerstand. Die Gesellschaft repolitisiert sich. Vorbei scheinen die Zeiten zu sein, in denen Politik gähnendes Achselzucken ausgelöst hat. Neuerdings heißt es: Es geht ums Ganze und das erfordert den Beitrag eines jeden Einzelnen. Es sind insbesondere junge Menschen, die sich den Feinden der offenen Gesellschaft entgegen- und ihre demokratische Gesinnungshaltung selbstbewusst zur Schau stellen. In den Städten und Ballungszentren gründen sich fast täglich neue Initiativen. Ihre Arbeit ist vielfältig und deckt ein breites Spektrum von Themen ab.

Organisationen wie „Publixphere" oder die „Jungen Europäischen Föderalisten" engagieren sich für ein handlungsfähiges Europa. Die Initiative „Die Offene Gesellschaft" setzt sich für das ein, womit sie mit ihrem Namen steht; „DeutschPlus" oder die „Neuen Deutschen Medienmacher" arbeiten an der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft; ohne Vereine wie „Moabit hilft" wäre die sogenannte Flüchtlingskrise nicht zu meistern gewesen. Auch Theaterhäuser mischen sich ein und bieten neben künstlerischen Produktionen politischen Diskurs- und Dialogformaten zu zeitgenössischen Themen eine Bühne.

Der Staat bist Du!

So unterschiedlich sie sind, so sehr eint sie die Überzeugung, dass Vielfalt eine Stärke und offene Grenzen eine wichtige Voraussetzung für eine funktionierende und prosperierende Gesellschaft sind. Es verwundert nicht, dass auch die Autoren der renommierten Shell Jugendstudie zu dem Fazit kommen, dass entgegen dem Trend der vergangenen Jahre das Interesse an Politik und gesellschaftlicher Teilhabe unter jungen Menschen steigt.

Anzeige

Dieses wiedererwachte Engagement ist positiv und zeigt vor allem eins: Beteiligung ist möglich. Politik ist eben nicht nur eine Angelegenheit gewählter Regierungen und Mandatsträger. Vielmehr ist sie angewiesen auf die Teilhabe einer aktiven Zivil- und Bürgergesellschaft. In Anbetracht der Radikalität, mit der Anti-Demokraten auf Stimmenfang gehen, scheinen sich viele Bürger an eine Erkenntnis zu erinnern, die die Deutsche Bundespost schon Anfang der 1950er Jahre auf einem Werbestempel trefflich formulierte: „Kritik am Staate steht dir zu. Doch denk daran: Der Staat bist du!"

New Kids on the Block vs. Platzhirsche

Der neue politische Aktivismus blendet jedoch aus, dass es bereits eine weitentwickelte Infrastruktur von Organisationen gibt, die politische Teilhabe ermöglichen: Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und natürlich: politische Parteien. In den Augen vieler junger Menschen wirken diese Einrichtungen wie Tanker - groß und unbeweglich. Dagegen ist die schnell aus dem Boden gestampfte Kampagne oder Petition geradezu ein Schnellboot, um in dem Bild zu bleiben. Entscheidungswege scheinen kürzer zu sein, Ergebnisse schneller sichtbar und das Mitmachen zugänglicher. Doch ein vermeintlicher Dualismus zwischen der etablierten und der neuen und jungen Zivilgesellschaft darf dem eigentlichen Anliegen - dem gesellschaftlichen Wandel - nicht im Wege stehen.

Denn wenn es um die Wirkung geht, haben traditionelle Akteure oft einen Vorteil: Sie verfügen mit ihren Landes- und Bezirksverbänden über eine föderale Struktur und sind in der Lage, Engagement in die Fläche zu tragen und auf diese Weise zu skalieren. Für Parteien und Gewerkschaften gilt zudem: Sie sind demokratisch organisiert. Sie können gesellschaftliche Meinungen moderieren und durch Mehrheitsbeschluss aggregieren. Nicht der lauteste setzt sich durch, sondern derjenige, der mit Argumenten überzeugt und demokratische Mehrheiten erreicht. Das ist transparent und allgemein verständlich.

Nun ist es ja nicht so, dass die Kritik an den Platzhirschen unbegründet ist. Im digitalen Zeitalter kann die habituelle Kultur eines Ortsvereins mit politischen Debatten bei Bulette und Bier piefig rüberkommen. Und bei den „Easy-Jet-Settern" kommt hinzu, dass sie zwar über Auslandserfahrung und gute Studienabschlüsse verfügen. Einer politischen Laufbahn steht aber im Weg, dass sie nie sonderlich viel Zeit am selben Ort verbringen, während es in der Politik häufig darum geht, wer das dickere Sitzfleisch hat. Dabei wäre es doch geboten, diese unterschiedlichen Perspektiven dynamischer Lebensläufe auch in kommunale Fragestellungen einfließen zu lassen. Solange das Potenzial dieser Schnittstelle nicht erkannt wird, finden es junge Menschen reizvoller, ihr Engagement lieber in zeitlich befristete Projekte und punktuelle Kampagnen einzubringen, bei denen die Ortspräsenz flexibel planbar ist.

Anzeige

Trotz dieser kulturellen und logistischen Hürden, ist es nun aufgrund des politischen Klimawandels dringend erforderlich, beide Sphären gesellschaftlichen Engagements zusammenzubringen. Die neuen Player der Zivilgesellschaft wären gut beraten, ihre Vorurteile und Berührungsängste gegenüber der Parteipolitik abzulegen. Gleichzeitig können es sich Parteien und gesellschaftliche Großorganisationen nicht mehr leisten, jüngst entstandene Beteiligungsorganisationen einfach zu übergehen. Dafür ist dieser Sektor zu dynamisch.

Präzedenzfälle für vermeintlich ungleiche Formen der Zusammenarbeit kennen wir. Große Firmen leisten sich immer öfter ihre eigenen Start-up-Inkubatoren mit der Aussicht auf eine Frischzellenkur durch externes Wissen und Innovationsfreudigkeit. Parteien, Gewerkschaften und auch Kirchen sollten ähnliche Experimente starten, verstärkt in Netzwerkstrukturen denken, die fachliche, kommunikative und methodische Expertise sowie das Grenzen überschreitende Denken von NGOs und Kampagnennetzwerken in ihre Arbeit integrieren und Parteiarbeit auch für punktuelles, projektbezogenes Engagement ermöglichen.

Eine solche Allianz hätte das Potenzial, diskursive Wucht zu entfalten, die zahlreichen Ideen, die sich insbesondere unter den jungen, beteiligungsbereiten Menschen formieren, auch über das städtische Milieu hinauszutragen und eines Tages wohlmöglich in Gesetzgebung münden zu lassen. „Let's join Forces" - im Sinne unseres demokratischen Gemeinwesens.

Original