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Zeitkapseln für die Klimaforschung

In den Gebirgen schwindet das Eis – und mit ihm einzigartige Spuren der Vergangenheit. Um auch künftigen Generationen ihre Erforschung zu ermöglichen, sollen Eiskerne in die Antarktis gebracht werden.

Manche sind bereits verschwunden, viele andere Gletscher verlieren massiv Eis. Wie der Südliche Schneeferner in den Bayerischen Alpen, der im vergangenen Jahr seinen Status als Gletscher verlor. Mit den Eisschichten gehen einzigartige Archive verloren: Anhand eingeschlossener Luft, Partikel, Chemikalien und organischer Spuren können Forscher rekonstruieren, wie sich Klima und Landschaft über Jahrtausende verändert haben.

„Darum wollen wir Eisproben sichern, um auch kommenden Generationen die Arbeit zu ermöglichen“, sagt Jérôme Chappellaz, Polarforscher an der Ecole polytechnique fédérale in Lausanne und Vorsitzender der Ice Memory Foundation. Von wichtigen Gletschern sollen Bohrkerne entnommen und in die Antarktis gebracht werden, um sie in der natürlichen Gefriertruhe in die Zukunft hinüberzuretten. So ähnlich wie der Saatguttresor auf Spitzbergen, der vor 15 Jahren eröffnet wurde und mittlerweile 1,2 Millionen Proben enthält.

Sieben Tage auf 4500 Metern

Die Eisrettung ist kompliziert, es braucht Technik, Logistik, Diplomatie und Geld. Und sie ist ziemlich anstrengend, wie die Umweltchemikerin Margit Schwikowski vom Paul-Scherrer-Institut (PSI) im schweizerischen Villigen berichtet. Vor zwei Jahren war sie an einer Expedition am Monte-Rosa-Massiv beteiligt, um am Gletschersattel Colle Gnifetti zwei 80 Meter lange Eiskerne zu erbohren.

Sieben Tage arbeiten die Fachleute in 4500 Metern Höhe. Die Nächte verbringen sie in der Capanna Margherita, der höchstgelegenen Berghütte Europas, und steigen jeden Morgen an Fixseilen zum Bohrplatz, weil alles vereist ist. Das Bohrgerät, vom Helikopter gebracht, wird mit Solarstrom betrieben. Je 70 Zentimeter lang sind die Kerne, werden umgehend in Plastik und Isolierkisten verpackt. Der Wind pfeift, die dünne Luft macht zu schaffen. Schließlich kann der Hubschrauber alles ins Tal fliegen, wo ein Kühl-Lkw die Proben übernimmt.

In der Schwierigkeitsskala von Ice Memory war dieser Einsatz auf dem Basis-Level. Rund 200.000 Euro seien dafür zu veranschlagen, sagt Chappellaz.

Stiftung setzt auf Philanthropen

In der nächste Stufe sind Einsätze, bei denen kein Helikopter helfen kann. Wie auf dem 6300 Meter hohen Illimani-Gletscher in Bolivien. Dort haben 60 Träger Material hoch- und heruntergeschafft, auf dem Rückweg noch 1,5 Tonnen Eisproben dazu. Nachts, damit nichts schmilzt. Etwa eine halbe Million Euro ist für solche Einsätze zu veranschlagen.

Stufe drei sind abgelegene Gletscher, etwa die auf der Insel Heard im südlichen Indischen Ozean. „Da rechnen wir mit ein bis zwei Millionen Euro“, sagt Chappellaz. „Solche Expeditionen haben wir aber noch nicht gemacht.“

In den nächsten zehn Jahren sollen Kerne von zwanzig Gletschern gesichert werden; unter anderem in diesem Frühjahr auf Spitzbergen. Insgesamt zehn Millionen Euro braucht Ice Memory dafür. Die üblichen Geldgeber der Wissenschaft seien schwer zu überzeugen, sagt Chappellaz. „Wir sichern Rohmaterial für künftige Generationen und bringen keine aktuellen Forschungsergebnisse.“ Die Stiftung setze auf Philanthropen. Fürst Albert II. von Monaco beispielsweise unterstütze Ice Memory seit Langem. Drei Millionen Euro hätten sie beisammen, sieben fehlten noch. „Wir haben einen Fundraiser angeheuert und hoffen, auch außerhalb von Europa mehr Unterstützung zu bekommen.“

Schmelzwasser verwischt Spuren

Wie sehr Zeit drängt, schildert die PSI-Forscherin Schwikowski am Beispiel des Gletschers Grand Combin im Wallis. „2018 haben wir dort gute Proben erhalten“, sagt sie. „Bei einer weiteren Kampagne 2020 war schon jede Menge Schmelzwasser im Eis, wir konnten kaum Kerne gewinnen.“ Das Wasser zerstört das Archiv.

Auf einer Darstellung von Sulfatmessungen – sie verweisen unter anderem auf den Einsatz fossiler Brennstoffe – wird das deutlich: In dem Kern von 2018 sind die Schwankungen zwischen den Schichten durchweg gut zu erkennen. In dem von 2020 ist das Signal bis viele Jahre zurück kaum noch auszumachen. „Sulfat befindet sich an den Grenzen der Eiskörner und ist wasserlöslich“, erklärt die Forscherin. Es werde buchstäblich ausgewaschen und mit ihm wichtige Umweltinformationen. „Heute dürfte das Eis am Grand Combin in noch schlechterem Zustand sein.“

Lagerung bei minus 50 Grad

Immerhin, Kerne von sieben Gletschern sind bereits gesichert, aus den Alpen, dem Kaukasus, vom Kilimandscharo und aus Bolivien. Aktuell liegt das Eis in verschiedenen Kühlhäusern. In die Antarktis wird es so schnell nicht gelangen. Zunächst müssen dort die Lager gebaut werden. Sie sollen an der Concordia-Station entstehen, die Frankreich und Italien gemeinsam betreiben.

Mit Schneefräsen werden dort zehn Meter tiefe Gräben geschaffen, in denen große Ballons aufgeblasen werden, bis knapp unter die Oberfläche. Anschließend wird Schnee aufgebracht, um ein Dach zu bilden. Er verfestigt sich zunehmend, bis der Ballon entfernt werden kann. Zurück bleibt ein Hohlraum im minus 50 Grad Celsius kalten Eis der Zentralantarktis. „Der sicherste Ort der Erde“, sagt Chappellaz. In der nächsten Saison 2024/25 sollen die Arbeiten beginnen.

Parallel dazu strebt Ice Memory die Zustimmung der 55 Länder an, die im Antarktis-Vertrag eine friedliche Nutzung zusichern. In jedem Fall müssen die Umweltvorschriften des „Madrid-Protokolls“ erfüllt sein. Aktuell gibt es Debatten um Bakterien und Viren, die in den Proben stecken und die bei einem Auftauen verbreitet werden könnten. „Das ist verständlich“, sagt Chappellaz. „Allerdings sollte man nicht vergessen, dass bereits mit dem Betrieb der Stationen viele Mikroorganismen eingetragen werden.“

Material für neue Forschung

Wenn die Lager fertig und alle Genehmigungen da sind, sollen die Bohrkerne aus aller Welt mit Kühlcontainern via Australien angeliefert und eingelagert werden. Zwar ist es dann aufwändiger, an das Material heranzukommen – in der Regel werden Proben in Kühlhäusern nahe der jeweiligen Forschungszentren aufbewahrt. Dafür verspricht das Lager in der Antarktis aber eine langfristig sichere Aufbewahrung. Anschläge und Naturkatastrophen sind dort kaum zu erwarten, Stromausfälle unbedenklich.

Dem Ice-Memory-Team ist das die Mühe wert. „Die wissenschaftlichen Methoden werden ständig besser“, sagt Schwikowksi. Immer präziser lassen sich chemische Verbindungen messen, selbst kleinste Mengen. „Ich bin sicher, dass es in einem halben Jahrhundert noch etliche Verfahren mehr gibt, die wir uns heute kaum vorstellen können.“ Vielleicht Genanalysen an kleinsten organischen Partikeln, die viel genauer nachzeichnen, wie sich die Landschaft entwickelte.

„Wie wertvoll diese Eiskerne sind, können wir heute nur erahnen“, sagt die Forscherin. „Darum sollten wir sie unbedingt erhalten.“

Erschienen am 12. April 2023.

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