Von ihrem Gartentor kann die junge Frau nach China schauen. Hier in Lung Cu, im nördlichsten Zipfel Vietnams, sind es von der Hauptstraße nur einige Schritte bis zur Grenze. Ein Schild, ein kniehoher Drahtzaun, mehr deutet nicht darauf hin, dass zwischen den Zedern ein anderes Land beginnt - ein Land, mit dem die junge Frau die schwerste Zeit ihres Lebens verbindet. Aber meistens denkt sie darüber gar nicht nach. Es gibt zu viel zu tun im Hier und Jetzt. Und so erzählt die Frau zwar bereitwillig, aber wie beiläufig ihre Geschichte, als sei sie gar nichts Erstaunliches.
28 Jahre ist die Frau, doch ihre Hände und ihr sonnengegerbtes Gesicht lassen sie älter aussehen. Ihr ganzes Leben hat sie in diesen Bergen verbracht, und dieses Leben war schon immer hart. Trotz der malerischen Landschaft verirren sich nur selten Touristen hierher, zu weit und beschwerlich ist der Weg aus den großen Städten. Die Menschen, die hier leben, haben vom wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre wenig mitbekommen. Viele von ihnen sprechen kein Vietnamesisch, sondern eine der vielen Sprachen, die man hier in den Bergen spricht. Die junge Frau, die lieber anonym bleiben will, gehört zur kleinen Minderheit der Lo Lo. Wie die meisten hier, kann sie nur schlecht lesen und schreiben. Sie lebt von dem, was die Natur im bergigen Norden ihr gibt, vom Gemüseanbau und von der Viehzucht.