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Gladbecker Geiseldrama 1988: "Ein Fall, der an die Nerven ging" - DER SPIEGEL - Geschichte

16. August 1988: Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski überfallen eine Gladbecker Bank und fliehen mit zwei Geiseln. Was dann geschieht, hat es vorher nicht und danach nie mehr in Deutschland gegeben. Bei einer langen Verfolgungsjagd entführen die Täter in Bremen, mittlerweile verstärkt durch Rösners Lebensgefährtin, einen Bus voller Geiseln, denen sie Pistolen an die Schläfe halten, während sie Interviews geben.

Erst nach 54 Stunden kann die Entführung auf einer Autobahn beendet werden. Zwei Geiseln sterben, zudem ein Polizist bei einem Unfall. Zur Skrupellosigkeit der Täter kommen sensationsgierige Journalisten sowie Polizisten, die hilflos wirken und unkoordiniert agieren.

Es war eines der spektakulärsten Verbrechen in der deutschen Geschichte. Im März zeigte die ARD eine aufwendige Rekonstruktion als TV-Thriller, den Millionen am Bildschirm verfolgten. Rösner hatte die Verfilmung per Klage zu stoppen versucht, allerdings vergeblich.

1988 war Rudolf Esders, damals 49, Richter für Strafrecht am Landgericht Essen. Er verfolgte den Fall in den Medien, maß ihm aber noch keine persönliche Bedeutung bei. Dann wurde eine Geisel erschossen und somit das Schwurgericht zuständig. Richter Esders erinnert sich, wie ein Richterkollege sagte: "Bis jetzt dachte ich, ich müsste diese fürchterliche Sache bearbeiten, aber mit dem Mord sind Sie dran."

In der Tat musste Esders einen Fall verhandeln, den ganz Deutschland live im Fernsehen verfolgt hatte - und in dem das Urteil einer breiten Öffentlichkeit längst feststand. Es sollte der wichtigste Fall seines Lebens werden.

Dreiste Lügen vor Gericht

Mit 22 Jahren im Beruf war Esders zu dieser Zeit bereits ein erfahrener Richter. Ein angemessenes Urteil zu finden, erschwerte das Verhalten von Rösner - dem Kopf hinter der Tat - und Degowski. Als die Polizei am dritten Tag die Geiselnahme auf der A3 bei Bad Honnef gewaltsam beendete, starb die Geisel Silke Bischoff, 18. Lange war strittig, ob im Schusswechsel eine Kugel aus Rösners Waffe oder aus der eines SEK-Beamten ihr Herz traf.

Rösner gestand vieles, aber nie den Schuss auf die Geisel. Zahlreiche Anhörungen von Polizisten, Sachverständigen und Rechtsmedizinern überzeugten Esders: "Das Projektil kam aus seiner Waffe."

Silke Bischoff war nicht das erste Todesopfer. Degowski hatte am Tag zuvor Emanuele de Giorgi in den Kopf geschossen, als der 14-Jährige versuchte, seine jüngere Schwester zu schützen. Vor Gericht indes behauptete der Geiselnehmer bis zum Schluss, der Mord an dem Jungen sei ein Versehen gewesen.

Erzählt Rudolf Esders davon, können seine Gesprächspartner es oft kaum fassen. "Wenn ein Angeklagter besonders dreist lügt, ist man empört. Es entsteht der Eindruck, der halte einen für dumm - so dumm, dass wir ihm das glauben", erklärt der Jurist. Er sehe aber auch die nahezu ausweglose, furchtbare Situation eines Angeklagten: Als Richter nehme man einem Menschen schließlich einen Großteil, wenn nicht das ganze Leben in Freiheit. Es sei menschlich, in solchen Lagen manchmal die Rationalität zu vernachlässigen.

Dieter Degowski fiel nicht allein durch schamlose Lügen auf. Den Komplizen Rösner habe er als "Schlappschwanz" bezeichnet, weil der nicht auf Kinder schießen könne, erinnert sich Esders. Und sein Opfer Emanuele de Giorgi habe Degowski verhöhnt: "Das war doch nur ein Kanake."

"Die Gefühle musste ich abschalten"

Bei Esders riss im Prozess trotzdem nie der Geduldsfaden. "Das ist Gewöhnung, das ist Professionalität. Die Gefühle hatte ich zwar, aber das konnte und musste ich abschalten. Im Gericht bin ich als Vertreter des Staates da und nicht persönlich." Wie das geht bei einem so brutalen Fall? "Ich habe gelernt, dass ich Leute nicht dafür bestrafen kann, dass sie vielleicht schlechte Menschen sind, sondern weil sie etwas getan haben, das schlecht ist."

Die vielen Prozesstage strapazierten die Nerven aller Beteiligten, der Vorsitzende Richter litt phasenweise besonders. Als das Verfahren bereits lief, wurde ein Beisitzer krank, ein Ersatzrichter kam. Wäre ein weiterer Berufsrichter ausgefallen, hätte der Prozess neu beginnen müssen. "Ein Albtraum", sagt Esders heute. Alles nochmals von ganz vorn aufrollen zu müssen - diese Sorge begleitete ihn, bis er endlich das Urteil sprechen konnte. "Es war ein Fall, der an die Nerven ging", blickt Esders zurück. "Meine beiden Töchter haben gesagt, ich sei während des Prozesses ein richtiges Ekelpaket gewesen."

Seine Urteile am 22. März 1991: für Rösner lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung wegen Geiselnahme mit Todesfolge. Für Degowski lebenslange Haft wegen Mordes und Geiselnahme mit Todesfolge mit besonderer Schwere der Schuld. Für Komplizin Löblich neun Jahre Freiheitsstrafe wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit Geiselnahme, beides mit Todesfolge.

SPIEGEL TV Magazin: Eine Geiselnahme als öffentliches Spektakel

Es lag nicht allein an der Verteidigung der Angeklagten, auch an der Strategie der Nebenkläger, dass aus dem Verfahren ein "Mammutprozess" wurde. Die Anwälte wollten für die Angehörigen der Opfer Schadensersatz beim Staat einfordern, stellten etliche Beweisanträge und ließen Polizisten anhören, um nachzuweisen, dass die Polizei ihre Amtspflichten verletzt habe.

Hatte sie das? Bis heute wird die Frage der Mitschuld der Polizei kontrovers diskutiert - von Versagen oder Totalausfall war die Rede. "Es kann schon sein, dass die Polizei sich damals falsch verhalten hat, aber nicht unvertretbar", sagt Esders dazu. Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzungen erhielten die Hinterbliebenen letztlich nicht.

Reporter auf der Rückbank

Ebenso in der Kritik standen wegen ihres Verhaltens im Geiseldrama die Medien. Entfesselt berichteten sie, als handelte sich es um einen erfundenen Krimi, weit weg von der Realität. Für manche Journalisten zählte allein das dramatischste Foto, die nächste Videoaufnahme, die spannendste Story. Sie führten Live-Interviews mit den Tätern; einer bat sie, ihre Waffe noch mal fürs Foto an den Kopf der Geisel zu halten. Einige wurden von Berichterstattern zu Akteuren, ein Fotograf pendelte als Vermittler zwischen Tätern und Polizei.

Reporter Udo Röbel, später "Bild"-Chefredakteur, setzte sich sogar in den Fluchtwagen und dirigierte Degowski und Rösner aus der Kölner Fußgängerzone zur nächsten Autobahn. An der Raststätte Siegburg konnte er aussteigen und vermarktete danach seine exklusive Erfahrung mit den Geiselnehmern.

Diese Geschehnisse, die seitdem als Sündenfall des Journalismus gelten, beschäftigen Röbel seit drei Jahrzehnten. In einem einestages-Interview vor zehn Jahren sprach er über die eigene Rolle, seine Fehler und "gefährliche Selbstüberschätzung". Bei einer Podiumsdiskussion begegnete er 2009 auch Rudolf Esders, wie SPIEGEL Plus jetzt berichtete. "Wenn Sie die Situation nicht beruhigt hätten, indem Sie die Gangster aus der Falle lotsten, in der sie saßen, wäre eine Katastrophe wohl unvermeidbar gewesen", habe der Richter ihm gesagt - "seitdem", so Röbel, "bin ich mit mir versöhnt."

Möglicherweise, so Esders heute, habe der Journalist ein Blutbad verhindert. Er sieht Röbels Rolle ambivalent und schildert die Details in Köln so: Eine Durchfahrt war durch Poller abgesperrt. Geiselnehmer Rösner vermutete eine taktische Maßnahme der Polizei und drohte durchzudrehen, als er seine geladene Waffe auf die Umstehenden richtete. "Röbel sorgte dafür, dass die Poller entfernt wurden, und bot an mitzufahren - nicht ganz uneigennützig", erinnert sich Esders. Röbel habe die Situation überrascht, er habe helfen wollen, sei zugleich aber auch als Journalist gefordert gewesen: "Aus diesem Spagat versuchte er, das Beste zu machen."

"Würden Sie denn auf Geiseln schießen?"

Auch im Prozess fiel später Röbels Name. Die Angeklagten behaupteten, der Reporter habe zu ihnen gesagt: "Ihr werdet diese Sache doch wohl durchziehen." Damit wollten die Geiselnehmer wohl beweisen, dass sie zu ihren Taten aufgefordert worden seien. Die Richter zweifelten daran und hörten sich in stundenlanger Arbeit sämtliche Tonaufnahmen und Videos an, bis sie die angebliche Aufforderung fanden.

Indes: "Ihr werdet diese Sache doch wohl nicht durchziehen", hörten sie Röbels Stimme. Nicht durchziehen - "das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht", so Esders. Am nächsten Verhandlungstag spielte er das Tonband mit dem richtigen Wortlaut ab. "Damit hatte sich das erledigt."

So fragwürdig die Berichterstattung in diesen Tagen auch war, für Esders brachte sie bisweilen hilfreiche Erkenntnisse. Er habe seine Aufgabe als Richter nicht darin gesehen, ein moralisches Urteil zu fällen, sondern die Schuld der Angeklagten auszuloten. "Dafür war mir alles recht, auch wenn es unschön gefärbt war."

Eine Situation macht Esders bis heute wütend: Es ist bereits dunkel an der Raststätte Grundbergsee nahe Bremen. Degowski steht mit der Geisel Silke Bischoff etwas außerhalb des Busses und presst ihr die Waffe an den Hals. Um sie herum Journalisten, einer richtet sein Mikro an Silke Bischoff und fragt, wie es ihr gehe. Mindestens geschmacklos. Unerträglicher noch ist aus Sicht von Esders die folgende Frage, nun an Degowski: "Würden Sie denn auf Geiseln schießen?" Dem Geiselnehmer bleibt nichts anderes übrig, als zu bejahen, wenn er seine Glaubwürdigkeit, sein Drohpotenzial nicht verlieren will.

Die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer leiden bis heute. Degowski kam im Februar nach fast 30 Jahren frei, Rösner befindet sich weiter in Haft. Es sind die Bilder von Situationen wie der am Grundbergsee, die in den Köpfen bleiben. "Wenn die Bilder nicht wären, würde keiner mehr ein Wort darüber verlieren. Sie halten den Prozess so am Leben", sagt Rudolf Esders. Ihm geht es da nicht anders als den Menschen, die das Drama vor dem Fernsehschirm verfolgten - es sind die Bilder seines größten Falls.

Die Autorinnen haben für "Stud.Jur", ein Magazin für junge Juristen des NOMOS-Verlags, mit Rudolf Esders gesprochen. Die neue Ausgabe erscheint Anfang Oktober zum Schwerpunktthema "Juristen und ihre größten Fälle".

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