2012 hat Atsushi Funahashi den ersten Teil von "Nuclear Nation" auf der Berlinale präsentiert, drei Jahre später ist er für den zweiten Teil wiedergekommen. Seine Dokumentar-Reihe zeichnet ein düsteres Bild von der japanischen Art und Weise, mit den gewaltigen Problemen umzugehen, die der Tsunami im März 2011 und die daraus resultierende Nuklearkatastrophe im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi verursacht haben.
Besonders im Fokus von "Nuclear Nation" stehen die Einwohner der Stadt Futaba, die aufgrund der Strahlenbelastung ihre Heimat verlassen mussten. Viele von ihnen wurden in einem leerstehenden Schulgebäude untergebracht und mussten dort über mehrere Jahre ausharren. Der japanische Regisseur des Films, Atsushi Funahashi hat mit uns über seine Motivation für das Projekt, die Tricks der japanischen Regierung und das Geschichtsverständnis seines Landes gesprochen.
Atsushi, kannst Du erklären, warum Du nach „Nuclear Nation I" noch einen zweiten Film zu dem Thema gedreht hast?Weil das nukleare Desaster noch nicht vorbei ist. Es dauert immer noch an und die Flüchtlinge können nicht in ihre Heimat zurückkehren. Sie haben ihr Zuhause, ihr Land, ihre Möbel und so weiter verloren. Aber auch ihre Tradition, ihre Geschichte und ihre Gemeinschaft. Viele Dinge sind in Fukushima verloren gegangen und sie können nicht wirklich durch Geld wieder gut gemacht werden. Doch die Bürger von dort können auch kein neues Leben starten, denn das Geld, das als Wiedergutmachung bisher gezahlt wurde, ist nicht genug. Sie leben in temporären Unterkünften. In einer Art Limbo.
"Nuclear Nation I" Hat die ersten 9 Monate nach der Katastrophe behandelt, dieser Film geht über einen viel längeren Zeitraum, fast 4 Jahre. Bist Du das Projekt diesmal anders angegangen, als bei Teil 1?Worauf ich mich bei Teil 2 konzentriert habe, ist der menschliche Schaden, der durch die Katastrophe entstanden ist. Die Spaltung und Trennung der Gemeinschaft. Man kann das gut mit dem europäischen Kolonialismus vergleichen. Was damals passiert ist, passiert derzeit in Futaba. Die Gemeinschaft wird eingeteilt und dadurch auseinandergerissen. Dort gibt es jetzt gegenseitigen Hass, weil manche mehr Geld als Kompensation bekommen, als andere. Oder Gratis-Essen in einigen Unterkünften und in anderen nicht. Das ist eine Taktik aus dem Kolonialismus. Du gibst den Leuten einen Zankapfel, um den sie sich untereinander streiten können, damit sie sich nicht gegen Dich zusammenschließen. Die Leute werden in verschiedene Gruppen eingeteilt: Futaba und die evakuierten Zonen sind zum Beispiel in drei Strahlungslevels eingeteilt - Hoch, mittel und niedrig. Es kann also sein, dass der Typ von der Straße gegenüber in einer „hohen" Zone gewohnt hat, Du aber nur in einer „mittleren". Die Einteilung der Level bestimmt auch die Höhe der Kompensation. Obwohl also beide ihre Häuser verloren haben, bekommt der eine mehr als der andere.
Es gibt noch ein anderes Beispiel: In der Stadt Futaba ist der Bau eines Zwischenlagers für nuklearen Müll geplant, erst letzte Woche haben sie mit dem Bau begonnen. Das ganze Lager umfasst zehn Prozent der Stadtfläche von Futaba. Die Leute, die auf diesen zehn Prozent Fläche gewohnt haben, haben Glück: Ihr Land wird von der Regierung gekauft. Aber die anderen 90 Prozent gehen völlig leer aus beim Grundstückskauf, obwohl ihr Land jetzt ebenfalls wertlos ist. Die Regierung sagt immer noch: Naja, ihr könnt eventuell irgendwann wieder dorthin zurückkehren. Das ist eine weitere tragische Sache, die die japanische Regierung den Leuten von Fukushima antut: Sie gibt ihnen keine Perspektive. Sie sagen nur: "Bis 2017 könnt ihr nicht in eure Häuser zurück." Und wenn man dann fragt: „Wann können wir wieder zurück?" bekommt man keine Antwort.
Wird es Deiner Einschätzung nach in absehbarer Zukunft möglich sein, dass die Leute in ihre Heimat zurückkehren?Nein.
Wie ist Deine Position als Filmemacher in dieser Situation? Würdest Du der Aussage zustimmen, dass Du mit "Nuclear Nation II" mehr ein Zuschauer bist, als ein Ermittler.?Hmmm....also ich erforsche das, was in Fukushima selbst auf der Straße passiert ist. Indem ich mit den normalen Leuten dort rede. Das ist meine Haltung. Ich versuche nicht zu bewerten, sondern soviel zu beobachten, wie ich kann. Aber ich behaupte nicht, dass dieser Film einen objektiven Standpunkt vertritt.
Es ist meine eigene Sicht der Dinge. Ich habe über 400 Stunden Material gedreht und aus diesen 400 Stunden habe ich zwei Stunden herausgeschnitten. Das allein ist ja schon eine sehr subjektive Entscheidung. Ich versuche allerdings, sehr fair in meiner Beobachtung zu sein.
Wie macht man denn aus 400 Stunden Material einen zweistündigen Film?Ich hatte keinen wirklichen Plan oder eine Strategie. Wenn ein so monumentales Ereignis wie diese Nuklearkatastrophe passiert, ist es viel besser, wenn man nichts plant. Dann kannst Du offen an die Sache herangehen. Ich wollte auch wirklich dieser Gruppe von Leuten folgen und darstellen, wie viel Zeit im Lauf des Films vergeht. Wie sich die Situation über die Wochen, Monate und Jahre entwickelt. Das war sehr wichtig für mich, denn das ist etwas, was das Kino darstellen kann. Ein fünfminütiger Newsclip kann das nicht.
Eine Tatsache, die auch in dem Film sehr deutlich gezeigt wird, vor allem in dem Flüchtlingsquartier in der High-School. Die Leute werden im Grunde wie Möbel behandelt. Sie stehen herum zwischen anderen Stapeln von Möbel und scheinen dort einfach zurückgelassen worden zu sein. Wie lang hast Du Dich schon mit dieser ganzen Situation befasst?Fast 4 Jahre. Ich bin dort gewesen seit dem März 2011. Seit sie in diese Unterkunft in der High School eingezogen sind.
Es ist witzig, dass Du sagst, sie werden wie Möbel behandelt, so habe ich das noch gar nicht betrachtet. Aber das zeigt, unter welchen unmenschlichen Umständen die Leute eigentlich dort leben. Sie haben keinerlei Privatsphäre, sie sitzen auf den Teppichen am Boden zwischen all diesen Kisten und Einrichtungsgegenständen herum. So haben sie über 2 Jahre gewohnt! Mittlerweile wohnen sie in einer anderen temporären Unterkunft, aber die Tatsache, dass sie nicht nach Hause zurück können, bleibt natürlich.
Wie sehr ist Fukushima politisch eigentlich noch ein Thema in Japan derzeit?Sehr spärlich. Die Japaner wollen sich einfach nicht damit befassen, denn es deprimiert sie. Das zeigt sich auch in den Quoten. Ab und zu bringt ein Fernsehsender einen Bericht über Fukushima und dann sehen sie, wie die Quoten runtergehen. Das wollen sie dann natürlich nicht noch einmal machen.
Die Regierung ist so ignorant, was die Flüchtlinge angeht. Sie wollen den Schaden möglichst klein halten. Die mögen mich zum Beispiel nicht. Sie mögen die Tatsache nicht, dass ich öffentlich im Ausland darüber erzähle, was in Fukushima passiert. Sie wollen darüber einfach nicht reden. Japans Premierminister Abe hat beispielsweise in Brasilien gesagt, als die Entscheidung über die Olympischen Spiele in Tokio gefällt wurde, dass Fukushima mittlerweile unter Kontrolle sei. Aber das stimmt nicht, die Strahlungslecks in Fukushima gibt es immer noch. All das versuchte Grundwasser fließt weiter ins Meer.
Könnte man sagen, dass da ein gesellschaftlicher Prozess der Verdrängung stattfindet?Ja, das ist unterbewusst in ganz Japan der Fall. Ich denke Japan sollte in dieser Hinsicht von Deutschland lernen. Deutschland lernt sehr gut aus der Vergangenheit. Ihr hattet die Nazis und den Krieg verloren, Japan verlor ihn auch. Dann haben die Deutschen der internationalen Gemeinschaft gegenüber zugegeben: Was wir getan haben, war wirklich schlimm und falsch. Japan hat seine Kriegsverbrechen immer noch nicht richtig eingestanden. Beispielsweise was das Thema der Zwangsprostitution von Koreanerinnen und Chinesinnen während des Zweiten Weltkriegs betrifft. Die regierende Partei in Japan will das immer noch nicht zugeben und Schuld dafür eingestehen.
Neben Deinen Dokumentarfilmprojekten drehst Du auch Spielfilme. Was macht Für Dich den Reiz der unterschiedlichen Genres aus und wirst Du bald auch wieder Spielfilme drehen?Ich drehe zwischendurch immer wieder Spielfilme und wechsle mich da ab, was Dokumentationen und Spielfilme betrifft. Gerade das Wechselspiel ist ein sehr kreativer Prozess für mich. Nach „Nuclear Nation I" habe ich einen Spielfilm namens „Cold Bloom" gemacht. Es ist ein psychologisches Drama über eine Frau, die ihren Mann verloren hat und an gebrochenem Herzen leidet. Es ist eine Entsprechung von dem, wie das japanische Volk sich am 11. März 2011 gefühlt hat. Sie haben etwas sehr Wichtiges verloren.
Der Film endet auch mit dem Verlassen dieser High-School und hat dadurch eine Art Abschluss, trotzdem ist klar, dass hier nichts wirklich abschließend gelöst ist. Wirst Du diese Leute weiter begleiten?Ja, ich werde sie solange beobachten, wie ich kann. Bis sie einen Ort gefunden haben, an dem sie sich endgültig niederlassen können.
Vielen Dank für das Gespräch, Atsushi!"Nuclear Nation II" läuft in den kommenden Tagen im Rahmen der Berlinale 2015, wo genau lässt sich hier nachlesen. Weitere Informationen zu dem Film und seinem Vorgänger findet ihr auf der offiziellen Homepage von "Nuclear Nation".