Normalität konstruieren wir in unserem Kopf. Dabei vermischen wir zwei Urteile über die Welt. Das ist menschlich, aber kann auch gefährlich werden. Ein Yale-Forscher klärt auf.
Wir wollen uns heute damit beschäftigen, was eigentlich normal ist. Man könnte sagen: aus gegebenem Anlass, beziehungsweise sehr vielen gegebenen Anlässen. Es geht also natürlich auch um Donald Trump.
Der neue Amtsinhaber hat in seinen ersten Tagen vieles von dem, was wir für einen US-Präsidenten „normal" gehalten haben, auf den Kopf gestellt. Wir verzichten an dieser Stelle auf eine unerquickliche Liste dieser Dinge, sie dürften dir ja schwerlich entgangen sein. Interessanter ist nun, wie wir mit Trumps Gebahren umgehen.
Viele warnen davor, sein Verhalten zu normalisieren und damit akzeptabel zu machen. Andere sehen die Gefahr, dass Menschen skandalmüde werden, wenn sie täglich mit neuen Undenkbarkeiten konfrontiert werden. Relativierung oder ständige Empörung - sind das unsere einzigen Optionen?
Es lohnt sich, an dieser Stelle einen Schritt zurückzutreten und zunächst zu fragen: Wie konstruiert unser Gehirn eigentlich das, was wir als normal empfinden? Die Forschung von Joshua Knobes, Professor für Philosophie, Psychologie und Linguistik an der Yale University, liefert uns dazu spannende Einsichten.
Gefühlte Statistik und MoralKnobes hat in einer Reihe von Studien beobachtet, dass Menschen zwei Informationen heranziehen, wenn sie beurteilen, ob etwas normal ist. Sie kombinieren ihren Eindruck davon, was häufig der Fall ist, mit ihrer Vorstellung, wie es idealerweise sein sollte. Gefühlte Statistik und moralische Vorstellungen ergeben also zusammen so etwas, wie den Sinn für Normalität.
In den Experimenten sollten die Teilnehmer zum Beispiel schätzen, wie viele Stunden Menschen durchschnittlich vor dem Fernseher verbringen. Sie sollten außerdem angeben, wie viele Stunden sie für normal hielten, und wie viele Stunden für ideal. Die Ergebnisse: vier Stunden, drei Stunden und zweieinhalb Stunden.
Dieses Muster zeigte sich auch in anderen Szenarien, wie Knobes in der „New York Times" schreibt, etwa wenn es um „die normale Großmutter, den normalen Salat, die normale Anzahl von gemobbten Schülern" geht. Danach ist „normal" in unseren Köpfen irgendwo zwischen „typisch" und „wünschenswert" angesiedelt.
Was heißt das für unseren Umgang mit, gelinde gesagt, außergewöhnlichem Verhalten?
Was häufig passiert, wird normalKnobes' Forschung legt nahe, dass wir Zustände auch dann als normal empfinden können, wenn sie sich zunehmend von unseren Moralvorstellungen entfernen. Je häufiger wir extremes Verhalten beobachten, desto mehr verschiebt sich unsere Wahrnehmung davon, was typischerweise der Fall ist. Und damit gegebenenfalls auch unser Sinn für Normalität.
Wenn ein Präsidentschaftskandidat so viele Fehltritte und Skandale überlebt, dass sie irgendwann nur noch ein Schulterzucken hervorrufen; wenn etwa ein US-Präsident sich regelmäßig via Twitter gegenüber der Öffentlichkeit äußert und gleichzeitig traditionelle Medien beleidigt; wenn er die Justizministerin des „Verrates" bezichtigt und feuert, weil sie ihr Amt ernst genommen und eines seiner Dekrete infrage gestellt hat; wenn er also konsistent ein Verhalten an den Tag legt, das wir bei anderen Präsidenten schon in Einzelfällen als inakzeptabel beurteilt hätten, dann besteht in der Tat die Gefahr, dass wir Zum-Himmel-Schreiendes nach und nach normalisieren.
Topinambur-Gratin, Trump - was ist normal?
Ausgeliefert sind wir diesem kognitiven Mechanismus, mit dem wir Normalität herstellen, freilich nicht. Wir können uns bewusst machen, dass es die beiden Einschätzungen zu trennen gilt. Unsere gefühlte Statistik einerseits, und unsere moralischen Vorstellungen andererseits. Das erfordert mitunter bewusste Anstrengung. Eine Anstrengung, die sich lohnt, angesichts dessen, was auf dem Spiel steht.
Und es gibt noch eine gute Nachricht: Wie ziemlich alle Prozesse, die in unserem Kopf ablaufen, ist auch dieser nicht per so gut oder schlecht. Vor zwanzig Jahren war vegetarische - oder gar vegane! - Ernährung bestenfalls ein Kuriosum, schlechterenfalls ein Angriff auf Identität und Kultur. Heute, wo Vegetarismus viel häufiger praktiziert wird, empfinden ihn viele als eine normale, „akzeptable" Variante der Ernährung.
Ob Topinambur-Gratin oder Trump - was häufig durch unsere Social-Media-Streams läuft, wird Teil unserer Normalität. Wir können aber entscheiden, ob wir es normal finden.