Es ist ein lauer Sommerabend in Warschau. Mit Freunden stehe ich am Plac Zbawiciela, zu Deutsch Erlöserplatz, im Stadtzentrum. Nach Feierabend wandeln sich die Gehwege vor den vielen Cafés zu Treffpunkten für gestresste Büromenschen, Kreative oder Studenten. Es ist viel los, wir trinken Bier oder Weißwein.
Eine Freundin stellt mir ihre Begleitung vor, Marek. Wir unterhalten uns über dies und das. Die Getränkepreise in Warschau seien hoch, sagt Marek, höher, als in vielen anderen europäischen Hauptstädten, höher als in Berlin allemal. Als wollte er dies beweisen, bestellt er im Café nebenan einen Champagnerkübel. Er lacht und gibt jedem ein Glas. Auf einmal fragt er: „Du bist kein Pole, oder?" Er hat meinen Akzent rausgehört. „Nein", sage ich und will es dann staatsbürgerschaftskonform einfach machen, „ich bin Deutscher, ich komme aus Berlin." Marek entgegnet: „Deutschland, das kenne ich, meine Oma war in Treblinka." Kurzes Schweigen. Um zu zeigen, dass ich moralisch einwandfrei unterwegs bin, könnte ich sagen, dass meine Oma auch im Lager war. Stattdessen antworte ich: „Du meinst also das polnische Vernichtungslager Treblinka." Wir lachen beide laut und alle anderen auch. Marek bestellt Wodka.
Die Empörung war großDer Begriff „polnisches Vernichtungslager" wurde 2012 in einer Rede von US-Präsident Barack Obama gebraucht, 2013 tauchte er auch in einem ZDF-Film auf. In beiden Fällen war die Empörung in Polen zu Recht groß. Impliziert dies doch, die Polen hätten selbst die Krematorien betrieben. War es Geschichtsvergessenheit, mangelndes Einfühlungsvermögen? Wollte man beim ZDF vielleicht die Last der Vergangenheit von sich schieben? In jedem Fall diente mir der Begriff dazu, zu zeigen, dass Marek und ich uns verstehen.
Warschau ist ein FriedhofKaum eine polnische Familie hat nach dem Zweiten Weltkrieg keine Opfer zu beklagen gehabt. Warschau ist ein Friedhof. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands lebten in den Ruinen nur noch wenige Tausend Menschen. Da hilft manchmal nur derber Witz.
Zurück in Berlin bin ich abends bei Freunden, das Wohnzimmer ist unaufgeräumt. Auf dem Esstisch stehen noch Teller, die Sofakissen liegen durcheinander. „Hier sieht es aus wie nach dem Warschauer Aufstand", sage ich. Alle sehen mich an, Betroffenheit, niemand lacht. Gut so, denke ich mir. Keine Schlussstrichdebatte in Berlin. Denn was die einen dürfen, dürfen die anderen noch lange nicht.