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Feature

Wirbelnd zu Gott

Die tanzenden Derwische sind in der Türkei eine Touristenattraktion. Aber hinter ihrer Show steht eine lange, spirituelle Tradition, die in Konya begonnen hat. Dort profitiert man heute von der Sinnsuche westlicher Besucher

Als seien es lästig gewordene Hüllen, streifen die Männer die schwarzen Umhänge ab. Darunter erstrahlt das reine Weiß ihrer Gewänder. Langsam beginnen sie sich zu drehen, indem sie mit präzisen Bewegungen den rechten Fuß umsetzen. Während die Männer um die eigene Achse wirbeln, blähen sich ihre Röcke langsam auf. Ganz so als sammelten sie Luft, um bald darauf davon zu schweben.

  „Es ist eine Art Trunkenheit. Es ist wie ein Fluss, der ins Meer fließt“, beschreibt Ali Shems Aksu seine Erfahrung als Tänzer während der Sema, dem Tanzritual der Derwische. Die Derwische sind Anhänger des Sufismus, der islamischen Mystik. Deren zentrales Element ist die Suche nach der Einheit mit Gott. Der persische Dichter und Mystiker Celaleddin Rumi kam im 13. Jahrhundert im heute türkischen Konya auf die Idee, die unio mystica, die Vereinigung mit Gott, im Drehtanz zu suchen. Das hat die Türken ebenso nachhaltig beeindruckt wie sein dichterisches Werk. Ehrfürchtig nennen sie ihn Mevlana, „unser Meister“. Mevlevi heißen denn auch die Anhänger jenes Sufi-Ordens, der sich auf Rumi bezieht.

  Konya, eine Millionenstadt in Zentralanatolien, ist ein reizloser Ort. Die meisten Menschen arbeiten im Maschinenbau und in der Landwirtschaft. Wenn der Wind schlecht steht, liegt der Geruch von Melasse aus den Zuckerfabriken über der Stadt. Und doch ist Konya durch und durch touristisch – der Derwische wegen. Viele Gruppen legen in Konya auf dem Weg von Antalya in die Vulkanlandschaften Kappadokiens einen Zwischenstopp ein. „Die schauen sich am Samstagabend die Sema an, bleiben eine Nacht und fahren weiter“, sagt Mustafa Büyükerkek, Manager des Hotels Rumi. Länger verweilen die türkischen Touristen sowie Menschen aus anderen Ländern, die spirituell auf der Suche sind. In der türkischen Volksreligiosität sind der Sufismus und die Verehrung Rumis tief verwurzelt. Seit einigen Jahren boomt Konya regelrecht: 2013 besuchten mehr als zwei Millionen Menschen Rumis Mausoleum, eine halbe Million mehr als noch fünf Jahre zuvor. Zwar sind drei von vier Besuchern Türken, aber auch die Zahl der ausländischen Besucher wächst stetig. „Wir profitieren stark davon, dass das Interesse an Mystik allgemein gewachsen ist“, sagt Mehmet Yünden vom Tourismusbüro Konya. „Und durch Bücher und Neuübersetzungen ist das Interesse an Mevlana im Speziellen gestiegen.“ So hat der türkische Autor Sinan Yagmur unter dem Titel „Tränen der Hingabe“ eine Reihe biografischer Romane über Rumi veröffentlicht. In den USA ist Rumi seit einigen Jahren populär. Künstler wie Madonna und Goldie Hawn haben seine Gedichte vertont. Und der Dichter Coleman Barks präsentiert den Amerikanern Rumi in leicht verdaulicher Form: als spirituell-ekstatischen Liebeslyriker, der den Islam nur leicht tangiert.

  „Im Winter ist noch einmal Saison“, sagt Mustafa Büyükerkek. „Dann kommen Sufis aus der ganzen Welt.“ In den ersten Dezemberwochen veranstaltet das Ministerium für Kultur und Tourismus alljährlich ein Festival, das seinen Höhepunkt am 17. Dezember findet. Şeb-i Arûs, Hochzeitstag, nennen die Sufis dieses Datum, an dem sie Rumis Vereinigung mit Gott feiern. Es ist sein Todestag.

  Bis 2003 tanzten die Derwische, reichlich prosaisch, in einer Sporthalle. Heute trifft man sich im Kültür Merkezi, einem Palast aus Marmor, Glas und Licht, halb Kongresszentrum, halb postmoderne Moschee. Im Rondell unter der spitzen Kuppel bieten Händler Derwisch-Memorabilien an: Porzellanfiguren, Gedichtbände, Schlüsselanhänger. Darüber hängt ein überdimensionales Portrait von Ministerpräsident Erdoğan, als wache er mit dem Blick eines gütigen Vaters über die Szenerie. Tatsächlich sind die Aufführungen der Sema seit den 1950er Jahren staatlich organisiert. Bald nachdem Atatürk 1923 die türkische Republik ausgerufen hatte, zerschlug er die Sufi-Orden. Auch Rumis Mausoleum wurde geschlossen, kurz darauf aber wiedereröffnet; nur nicht als Pilgerstätte, sondern säkularisiert, als Museum.

  Die Gläubigen kommen trotzdem her, um an Rumis Grab Gebete zu murmeln oder die Vitrine zu küssen, hinter der sich ein Barthaar des Propheten befinden soll. Offizielle Gebete sind indes nur zu besonderen Anlässen zugelassen, etwa an Rumis Todestag. Dann drängen sich hier die Massen. Frauen schieben sich durch die Wartenden, um möglichst nah an Rumis Grab zu gelangen. Immer wieder müssen die Wachleute junge Männer ermahnen, die trotz Fotoverbot ihre Smartphones in die Luft recken. Die Gläubigen stimmen in die „Allah“-Rufe des Vorbeters ein, immer schneller wiederholen sie den Namen Gottes, bis die Rufe sich fast überschlagen.

  „Dass das Verbot der Sufi-Orden auch die Mevlevi traf, hat Atatürk sehr traurig gemacht, aber er konnte nun einmal keine Ausnahme machen“, sagt Esin Çelebi Bayru. Sie ist eine elegant gekleidete Frau Anfang Sechzig. Ihr warmes Lächeln mag als Hinweis auf ihre Abstammung gelten, denn die geht über mehr als 20 Generationen auf Rumi zurück. Seit jeher wurde der Vorsitz des Mevlevi-Ordens innerhalb der Familie weitergegeben. Heute gehört Esin Çelebi Bayru zum Vorstand der Internationalen Mevlana Stiftung, die von ihrem Bruder geleitet wird und sich der Wahrung des Erbes Rumis verschrieben hat. Es ist die gängige Erzählung in Konya: Blutenden Herzens habe Atatürk das Verbot auch auf die Mevlevis angewandt. Gestützt wird das durch ein überliefertes Zitat, in dem der Staatsgründer die Verdienste des Ordens lobt. Trotzdem kam es erst 1954, lange nach Atatürks Tod, wieder zu einer öffentlichen Aufführung der Sema.

  Das Ministerium für Kultur und Tourismus hatte damals schon die Zugkraft dieses fotogenen Aushängeschilds der türkischen Kultur erkannt. Durch die Vermarktung hat der Staat die Sema weitgehend profanisiert. Andererseits ist es dem Tourismus zu verdanken, dass die Tradition trotz des Verbots überleben konnte. Heute sei das Verhältnis der Mevlevi zu den Behörden hervorragend, sagt Esin Çelebi Bayru. Von der Arbeit der Stiftung profitiert aber auch der Staat – die Derwische bringen internationales Ansehen: Seit 2005 zählt die Sema zum immateriellen Weltkulturerbe. „Die heutige Situation ist etwas widersprüchlich“, sagt Peter Hüseyin Cunz, während er im ersten Stock des Stiftungshauses in Konya auf dem Sofa sitzt. „Die Sema wird als Kulturgut gefördert, aber nicht als spirituelle Praxis. Andererseits will man hier Authentizität anbieten. Schließlich kommen die Menschen wegen der Inhalte.“ Peter Hüseyin Cunz ist Elektroingenieur am Schweizer Bundesamt für Energie – und Sufi-Scheich. Über seine erste Ehefrau, Tochter eines Imams, kam er zum Islam. Und nach einer langen religiösen Suche zum Sufismus. Den Spagat lösen sie in Konya so: Während des Festivals im Winter werden die Aufführungen von Gebeten gerahmt, dazu treten türkische Popsänger auf und Politiker halten Reden.

„Selbstverständlich ist es eine Show. Das heißt aber nicht, dass man als Tänzer nicht trotzdem diesen ganz speziellen Moment erreichen kann“, sagt Ali Shems Aksu, der Tänzer. Die Sema, wie die knapp einstündige Zeremonie heißt, steckt voller Symbole: Die schwarzen Umhänge der Tänzer symbolisieren ihr irdisches Leben, das sie ablegen. Das weiße Kleid darunter versinnbildlicht, einem Leichentuch gleich, die Neugeburt im Paradies. Der Filzhut, den die Tänzer auch während der Zeremonie aufbehalten, symbolisiert ihren eigenen Grabstein. „Manchmal“, sagt Ali Shems Aksu, „entsteht während des Tanzens im Geist ein Wirbel auf dem Weg zu Gott. Das ist das Wesen der Sema.“

  Viele der Tänzer und Musiker haben ihre Ausbildung an Konservatorien und Universitäten erfahren, nicht in Sufi-Klöstern. „Aber wer es dabei nicht ernst meint, könnte diesen Weg nicht gehen“, sagt Ali Shems Aksu. Schon als Kind sei er von den wirbelnden Derwischen fasziniert gewesen, erzählt er.

In seinem Laden, einen Steinwurf entfernt vom ummauerten Park des Mausoleums, verkauft Ali Shems Aksu neben selbstgebauten traditionellen Musikinstrumenten den üblichen Derwisch-Schnickschnack. Einen Widerspruch zwischen Kommerz und Tradition sieht er nicht: „Die Sema im Kültür Merkezi funktioniert wie ein Schaufenster. Man sieht bloß einen Teil. Aber manch einer will erfahren, was es dahinter noch gibt.“

  Während des Festivals sind die 3000 Sitzplätze im Kültür Merkezi fast immer ausverkauft. Im Schnitt seien 60 Prozent der Besucher Türken, der Rest komme aus dem Ausland, sagt Mehmet Yünden. Es sind viele konservativ gekleidete Großfamilien zu sehen, die inbrünstig die Gebetsfragmente mitrufen. „Und dann gibt es da Menschen, die dabei Coca-Cola trinken und sich gruppenweise fotografieren lassen“, sagt Peter Hüseyin Cunz. „Da ist die Sema dann nur noch Kulisse.“