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Wasserstoff marsch!

Mit Ökostrom erzeugter Wasserstoff gilt als zentraler Baustein der Energiewelt von morgen. Noch ist die Produktion zu teuer. Doch das könnte sich ändern – wenn die Politik sie von Steuern und Abgaben befreit. Besuch einer Pilotanlage von Audi.


Die Maschinen, die ein Kernproblem der Energiewende lösen sollen, schlummern an den meisten Tagen des Jahres im Standby-Modus vor sich hin. Erst wenn ein Sturmtief übers Land jagt und Windräder Energie im Überfluss in die Netze drücken, erwachen sie für wenige Stunden zum Leben. Mit der Kraft des Ökostroms zerlegen die drei Elektrolyseblöcke im emsländischen Werlte dann Wasser in zwei sorgsam getrennte Gase: in Sauerstoff (O2), der sich über den umliegenden Äckern verteilt. Und in Wasserstoff (H2), der in ein verzweigtes Rohrsystem fließt.

Auf diese Art sauber erzeugter Wasserstoff soll eine Schlüsselrolle im Energiesystem von morgen übernehmen. Denn er lässt sich speichern und bei Bedarf zum Beispiel in neuartigen Gaskraftwerken verfeuern – ohne dass dabei CO2 frei wird. So sorgt Wasserstoff dafür, dass die Energie aus Wind- und Solarparks auch dann zur Verfügung steht, wenn weder der Wind weht noch die Sonne scheint. Er kann helfen, Dunkelflauten zu überbrücken, Heizwärme liefern und Autos mit Brennstoffzellen antreiben.

Mit einer Leistung von sechs Megawatt ist die vom Autohersteller Audi gebaute Anlage im Emsland weltweit der erste Elektrolyseur im industriellen Maßstab – und auch sechs Jahre nach Inbetriebnahme noch die größte. Ein Superlativ, den Betriebsleiter Tolga Akertek gern weiterreichen würde. Zeigt er doch, dass die H2-Produktion mit Ökostrom bislang kaum vorankommt.


Die Chancen dafür, dass Akertek den ungeliebten Titel bald loswird und endlich Schwung in den Markt kommt, stehen allerdings nicht schlecht. Denn immer mehr Unternehmen erkennen das Potenzial der Erzeugung brennbarer Gase wie Wasserstoff mit Hilfe von Strom, kurz Power-to-Gas genannt.

Energiekonzerne haben bereits Elektrolyseure mit einer Leistung von bis zu 100 Megawatt angekündigt. In den Branchen Strom, Gas, Öl, Anlagenbau und Stahl bilden Unternehmen Projektkonsortien, um für Power-to-Gas gewappnet zu sein. Wissenschaftler glauben, dass mittelfristig kein Weg an dieser Technologie vorbeiführt. Will Deutschland seine Klimaziele bei gleichbleibender Versorgungssicherheit erreichen, braucht es bis 2050 eine Elektrolyseleistung im dreistelligen Gigawattbereich, haben zuletzt Fraunhofer-Wissenschaftler aufgezeigt.


Eine Stärke von Power-to-Gas und dem Energieträger Wasserstoff liegt darin, dass die Technologie die Kopplung verschiedener Sektoren ermöglicht, also Ökostrom in Bereichen wie dem Verkehr oder der Heizung von Gebäuden verfügbar macht, in denen der CO2-Ausstoß bislang kaum gesunken ist.

Ein Beispiel dafür ist die Audi-Pilotanlage in Werlte. Der in ihren Elektrolyseuren elektrochemisch gewonnene Wasserstoff wird mit dem Kohlendioxid aus einer benachbarten Biogasanlage zu Methan synthetisiert und ins Erdgasnetz gespeist.

Autos können mit diesem Gas annähernd klimaneutral fahren. Denn der Elektrolyseur geht in der Regel nur dann ans Netz, wenn es einen Überschuss an Ökostrom im Netz gibt und die Preise an der Strombörse deshalb in den Keller gehen. „Wenn Unwetter einen Namen bekommen, können Sie davon ausgehen, dass unsere Anlage läuft“, sagt Akertek.

Auch an Feiertagen, wenn die Stromnachfrage gering ist und die Preise ebenfalls purzeln, laufen die Elektrolyseure häufig. So wie am ersten Mai. Am sogenannten Day-Ahead-Markt, an dem Strom für den folgenden Tag an der Börse gehandelt wird, hatte die Anlage in Werlte einen Preis von 30 Euro pro Megawattstunde geboten. Als der Preis zwischen neun Uhr morgens und sechs Uhr abends darunter lag und zeitweise sogar ins Minus drehte, lief die Wasserstoffproduktion innerhalb von fünf Minuten an.

Doch anschließend war es für Wochen still in der Halle. Wirtschaftlich ist diese Auslastung natürlich nicht.


Bei den wenigen Betriebsstunden soll es aber nicht bleiben. Noch in diesem Jahr wird technisch aufgerüstet, um das Methan zu verflüssigen. Dann wird die Anlage nach Akerteks Worten nicht nur an einzelnen Stunden, sondern etwa das halbe Jahr lang laufen.

Ab 2020 sollen zudem weitere flüssige Kraftstoffe erzeugt werden. Prinzipiell lassen sich auch Diesel, Benzin, Kerosin oder Ausgangsstoffe für die Chemieindustrie synthetisieren. „Wir wollen zeigen, dass man mit Strom, Wasser und CO2  jeden Kraftstoff herstellen kann“, sagt der Verfahrensingenieur, der die Pilotanlage mit aufgebaut hat und jetzt die Erweiterungen plant.

Dazu zählt auch eine Kompressorstation, die den Wasserstoff auf bis zu 300 bar verdichtet und in große Gasflaschen füllt. Die gehen per Lastwagen ins 40 Kilometer entfernte Lingen, wo eine Raffinerie von BP Rohöl entschwefelt und zerlegt. Dort werden für die Treibstoffproduktion rund acht Tonnen Wasserstoff pro Stunde benötigt. Zum Vergleich: Die Audi-Anlage produziert im selben Zeitraum maximal 110 Kilogramm.


Um allein diese eine Raffinerie komplett mit grünem Wasserstoff zu versorgen, bräuchte es einen riesigen Wind- oder Solarpark und eine Elektrolysekapazität von etwa einem halben Gigawatt. Doch tatsächlich sind bereits Großanlagen in Lingen in Planung: Gleich zwei Konsortien wollen Elektrolyseure der 100-Megawatt-Klasse bauen. Beim Projekt GET H2 sind unter anderen RWE, Siemens und Enertrag dabei. Beim Projekt Hybridge wollen der Übertragungsnetzbetreiber Amprion und der Gasnetzbetreiber OGE die Sektorenkopplung im großen Maßstab testen. Auch Tennet, Gasunie und Thyssengas planen im Nordwesten eine Power-to-Gas-Pilotanlage im dreistelligen Megawattbereich.

Vattenfall will in Brunsbüttel mit Partnern einen 50-Megawatt-Elektrolyseur errichten. In Shells Rheinland-Raffinerie soll eine Zehn-Megawatt-Anlage im kommenden Jahr Wasserstoff liefern. Und in der Rotterdamer „Elektrolysefabriek“ wird sogar eine Skalierung in den Gigawattbereich ab 2025 angestrebt. Fast alle großen Player der Energiebranche bringen sich in Position, um Erfahrungen zu sammeln – und um das grüne Image zu pflegen. Eine Übersichtskarte der Power-to-Gas-Projekte in Deutschland gibt es hier.

Die Technologie gilt zwar als teuer, aber als weitgehend ausgereift. „Einer großskaligen Nutzung der Elektrolyse steht aus technologischer Sicht nichts im Wege“, erklärt Tom Smolinka vom Fraunhofer ISE.


Wasserstoff wird allerdings auch heute schon in großem Stil hergestellt. Knapp 20 Milliarden Kubikmeter jährlich werden hierzulande für Raffinerien, Stahlwerke und Düngemittelfabriken produziert, weltweit ist es etwa die 30-fache Menge. Das Gas wird überwiegend vor Ort aus konventionellem Erdgas gewonnen. Würde man es stattdessen per Elektrolyse mit Solar- oder Windstrom erzeugen, kostete dies im Idealfall nur rund ein Viertel mehr, rechnet der Analyst Stephan Franz vor – vorausgesetzt, der Ökostrom wäre nicht mit Nebenkosten belastet. Power-to-Gas davon zu befreien, fordern deshalb die fünf norddeutschen Bundesländer, die sich mit einer gemeinsamen Strategie für den Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft einsetzen wollen.

Dass ein Streichen der staatlich veranlassten Nebenkosten ein zentraler Hebel für die Konkurrenzfähigkeit ist, belegt die Indwede-Studie der Fraunhofer-Institute ISE und IPA sowie der Berater von E4tech: Ein Kilogramm Elektrolyse-Wasserstoff lässt sich aktuell für etwa zehn Euro produzieren – ohne Steuern, Netzentgelt und EEG-Abgabe etwa für die Hälfte.

Ein erster Schritt ist getan: Im April hatte das Bundeswirtschaftsministerium nach Protesten im Bundesrat angekündigt, geplante Änderungen im Netzausbaubeschleunigungsgesetz zu korrigieren. Demnach sind für Power-to-Gas-Anlagen künftig keine Netzentgelte zu zahlen. Andere Stromnebenkosten bleiben jedoch.


Der Wirkungsgrad von Power-to-Gas erscheint auf den ersten Blick vergleichsweise niedrig. Doch Tolga Akertek sieht das anders: „Die Verluste beim Fördern und Aufbereiten von Rohöl stellt auch niemand infrage“, sagt der Audi-Ingenieur.

Kritiker von Power-to-Gas verweisen vor allem auf eine geringe Effizienz bei der Energieumwandlung. Für die Anlage in Werlte nennt Akertek einen Wirkungsgrad von 78 Prozent, bezogen auf den Heizwert. Bei der Methanisierung, durch die sich die vorhandene Infrastruktur für Erdgas nutzen lässt, gehen etwa zehn Prozent der Energie verloren. Ebenso hoch ist der Verlust, wenn man Wasserstoff zum Tanken auf 700 bar komprimiert. Wird das Gas in Brennstoffzellen verstromt, sinkt der Gesamtwirkungsgrad auf etwa 35 Prozent.

Auf den ersten Blick eine miese Bilanz. Doch Audi-Ingenieur Akertek kontert mit dem Verweis auf den meist ausgeblendeten Aufwand für fossile Energien: „Die Verluste beim Fördern und Aufbereiten von Rohöl stellt auch niemand infrage.“

Dass Batterieautos bei der Elektromobilität vorerst die Nase vorn haben, liegt neben dem deutlich besseren Wirkungsgrad vor allem an der fehlenden Infrastruktur und den hohen Preisen für Brennstoffzellen. Im Energiesystem von morgen werden chemische Speicher wie Wasserstoff dennoch ihren Platz habe – trotz des geringen Wirkungsgrads von Power-to-Gas.


Der entscheidende Vorteil ist die Entkopplung von Angebot und Nachfrage: Eine Dunkelflaute lässt sich in Deutschland bei einem rein erneuerbaren Strommix aus technischen und wirtschaftlichen Gründen weder mit Batterien noch mit Pumpspeichern bewältigen. Bis 2050 ist deshalb laut der Indwede-Studie eine Elektrolyseleistung zwischen 137 und 275 Gigawatt nötig. In jedem Fall müsste bereits in der zweiten Hälfte des kommenden Jahrzehnts deutlich mehr als ein Gigawatt pro Jahr installiert werden.

Die gewaltige Kapazität lässt sich nicht aufbauen, wenn Elektrolyseure wie heute mit viel Handarbeit in Kleinserie hergestellt werden. Damit eine Fertigungsindustrie entsteht, braucht es politische Unterstützung, sagt Mitautor Franz Lehner von E4tech: „Der Markthochlauf, der für die weitere Technologieentwicklung und Kostenreduktion der zentrale Hebel ist, muss durch Anpassungen des regulatorischen Rahmens, insbesondere beim Strombezug unterstützt werden, damit Elektrolyseanwendungen wirtschaftlich werden können.“

Die McKinsey-Studie „Hydrogen-Scaling up“ beziffert das wirtschaftliche Potenzial der Wasserstoffwirtschaft in 30 Jahren auf mehr als zwei Billionen Euro jährlich. Weltweit könnten so über 30 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen.

Deutsche Entwickler zählen bei Elektrolyse und Brennstoffzellen zu den führenden. Ob man dieses Feld wie bei der Fotovoltaik der Konkurrenz überlässt oder mit dem Know-how eine Zukunftsindustrie in Deutschland aufbaut, hängt entscheidend von den politischen Vorgaben in nächster Zeit ab.


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