Wie die Pharmaindustrie mit Medikamenten schludert: Daniel Harrich hat den TV-Thriller "Gift" und eine brisante Doku über Fälschungen und Fehlerprodukte gedreht. Er fordert mehr Transparenz. Ein Interview von Peter Luley
Durchweg prominent besetzt ist der Pharma-Thriller "Gift", den die ARD heute Abend zeigt: Heiner Lauterbach spielt einen Medikamentengroßhändler, der mit minderwertigen Produkten Geld gemacht hat, nach einer Krebsdiagnose aber Skrupel bekommt und auspacken will; Julia Koschitz verkörpert die zähe Interpol-Agentin, die ihm auf den Fersen ist. In weiteren Rollen zu sehen sind Luise Heyer als Tochter des Whistleblowers, Maria Furtwängler als Lobbyistin und Ulrich Matthes als Investmentbanker.
Für Regisseur Daniel Harrich ist diese fiktionalisierte Verdichtung seiner Recherchen (Buch: Harrich und Gert Heidenreich) jedoch nur die eine Seite der Medaille: Er möchte Debatten anstoßen, dem 33-Jährigen geht es um Aufmerksamkeit für sein Thema, und er hat erkannt, dass die größer ist, wenn vorher ein emotionaler Resonanzboden geschaffen wird.
So hat er in "investigativen Spielfilmen" bereits das Oktoberfestattentat von 1980 aufgearbeitet ("Der blinde Fleck", 2013) und illegale deutsche Waffenexporte enthüllt ("Meister des Todes", 2015) - und jeweils in angekoppelten Dokumentationen die Hintergründe dargestellt. Auch in diesem Fall folgt auf die Fiktion der Faktenabgleich: Die 30-minütige Dokumentation "Gefährliche Medikamente - gepanscht, gestreckt, gefälscht" läuft im Anschluss um 21.45 Uhr.
SPIEGEL ONLINE: Herr Harrich, wie sind Sie auf das Thema gefälschte Medikamente und Arzneimittelsicherheit gestoßen?
Harrich: Durch unsere Arbeit zum Contergan-Skandal. 2002/2003 haben meine Eltern und ich - wir sind ja ein Familienbetrieb - zwei Dokumentationen über Thalidomid, also den Wirkstoff von Contergan, gemacht. Es ging einerseits um die historische Verantwortung der Firma Grünenthal, der Bundesbehörden und der internationalen Behörden und darum, wie der Contergan-Skandal überhaupt passieren konnte. Gleichzeitig sind wir damals darauf gestoßen, dass Thalidomid als Wirkstoff nach wie vor zur Behandlung von Lepra, HIV und Krebs eingesetzt wird. Und zwar mit Erfolg. Dabei sind wir aber auf eine neue Generation von Thalidomid-geschädigten Kindern in Brasilien gestoßen, die wir in einer Lepra-Kolonie besucht haben. Da hatten analphabetische Frauen das Warnsymbol auf der Tablettenpackung, welches nach dem Skandal Pflicht geworden war, also den durchgestrichenen Babybauch, als Zeichen für eine Abtreibungspille missverstanden und haben in schwangerem Zustand diese Tabletten genommen.
SPIEGEL ONLINE: Das heißt, seit dieser Zeit haben Sie ein Netzwerk aus Informanten und Whistleblowern und sind dran an der Thematik?
Harrich: Genau. Insbesondere die Recherchen der letzten acht, neun Jahre haben ergeben, dass es mittlerweile weniger um den kriminellen, bösen Fälscher geht, der kopiert und panscht. Wichtiger ist die Frage nach der Zuverlässigkeit der legalen Lieferkette und der Rolle der großen Pharmakonzerne. Sogenannte Medikamentenfälschungen beinhalten ja alles, von Substandard über minderwertig bis zu verunreinigt. Letztlich hinterfragen wir das gesamte Arzneimittelsicherheitssystem.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem fiktionalen TV-Film "Gift" geht es in erster Linie um gefälschte Medikamente in Indien, in den Slums von Mumbai. Wie sieht es damit in Deutschland aus? Die Rede ist von bis zu ein Prozent Fälschungsrate laut WHO in Europa und den USA, was bei mehr als 1,4 Milliarden über Apotheken in Deutschland verkauften Packungen pro Jahr allerdings auch stattliche 14 Millionen ergibt.
Harrich: Bei der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker gingen vergangenes Jahr über 8000 Meldungen zu Qualitätsmängeln oder unerwünschten Wirkungen von Medikamenten ein. Fast jede Woche gibt es Rückrufaktionen. Oft mit Begründungen wie Verunreinigungen, falsche Wirkstoffe, oder falsche Dosierung und andere Produktionsmängel. Und davon sind nicht nur generische Produkte, sondern auch große Hersteller betroffen. Das ist eine Frage der Definition: Wann reden wir über eine Fälschung, also über ein verfälschtes Produkt, das trotz angeblich strenger Kontrollen in den Handel gerät? Bei Stichproben-Kontrollen gibt es sehr regelmäßig Treffer. Fälschungen haben also deutsche Apotheken längst erreicht. Wenn wir hier nur nach der Qualität gehen: Minderwertige Präparate, die in die legale Lieferkette in Deutschland gelangen - da sind wir längst.
SPIEGEL ONLINE: Können Sie ein Beispiel nennen, was in jüngerer Zeit zurückgerufen werden musste?
Harrich: In den letzten Wochen lief eine riesige Rückrufaktion von Heparinen durch das Unternehmen Rotexmedica, da ging es um über 200.000 Durchstechflaschen. Heparin ist ein Blutverdünner, der lebenswichtig ist, ein Thrombosemittel, das jeder braucht, der operiert wird. 160 Millionen Tagesdosen pro Jahr werden in deutschen Krankenhäusern oder ambulant verabreicht. Gleichzeitig hat Heparin eine Vorgeschichte. 2008 war es Gegenstand eines Skandals um gefälschte beziehungsweise minderwertige Medikamente. Allein in den USA starben laut US Food and Drug Administration (FDA) 81 Menschen, auch in Deutschland gab es eine hohe Zahl von Geschädigten.
SPIEGEL ONLINE: Die Motivation der Fälscher ist klar: Profitmaximierung. Aber warum wird dem kein Riegel vorgeschoben? Fehlen die Kapazitäten für Kontrollen, oder wo liegt das Problem?
Harrich: Man kann es mit der Textilbranche vergleichen. Es ist eine riesige Branche, es geht um wahnsinnig viele Produkte und irrsinnig viel Geld, und die Kontrolle ist schwierig. Aus Gründen der Kostenoptimierung - oder des Kostendrucks, je nach Sichtweise - hat man die Produktion ins Ausland, nach China und Indien, verlegt. Qualitätskontrollen können dort problematisch sein. Das bestätigen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA und die FDA in den USA. Es gibt unglaublich verschlungene Lieferwege, weil von den Wirkstoffen bis zu den Verpackungen alles woanders gefertigt und wiederum woanders zusammengesetzt wird. Das System ist scheinbar von den Herstellern auf völlige Intransparenz ausgelegt. Dem wird nichts Entsprechendes entgegengesetzt.
SPIEGEL ONLINE: Was sollen Patienten also tun? In der Apotheke nachfragen, wo das Mittel herkommt und gefertigt wurde?
Harrich: Genau das! Wie in der Textilbranche und beim Kaffee, beim Joghurt, bei den Eiern und beim Fleisch - wenn vom Konsumenten Druck kommt, die Hersteller kontaktiert werden, auf der politischen Ebene mal nachgefragt wird, warum alle Parteien beim Thema Pharma- und Arzneimittelsicherheit die Augen zudrücken und so tun, als ob alles wunderbar sei..., dann ändert sich vielleicht was. Wir lassen hier eine Branche sich selber kontrollieren, die von Profitgier zersetzt zu sein scheint.
SPIEGEL ONLINE: Ist es denn wirklich so schlimm?...
Harrich: Ja! Der Bock wird in diesem System oft zum Gärtner gemacht. Mitarbeiter setzen sich unterschiedliche Hüte auf, wechseln von der Industrie in die Wissenschaft und von dort in die Behörden. Das ist ein komischer Wind, der durch diese Institutionen weht, und er lässt mich zweifeln am Willen und der Aufgabenwahrnehmung. Es scheint mir manchmal, dass Behörden und Politik eher die Interessen der Firmen schützen, als die Sicherheit der Konsumenten zu gewährleisten.
"Gift" (Spielfilm), Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD "Gefährliche Medikamente - gepanscht, gestreckt, gefälscht" (Doku), Mittwoch, 21.45 Uhr, ARD
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