28.06.2022
Zündfunk: Frau Brockschmidt, sie sind gerade in den USA. Wie haben Sie am Freitag das Supreme-Court-Urteil erlebt, das das Recht auf Abtreibung gekippt hat?
Annika Brockschmidt: Ich bin am Freitagmittag, wenige Stunden nachdem das Urteil verkündet wurde, zum Obersten Gerichtshof gefahren. Dort hatte sich schon eine erhebliche Menschenmenge versammelt. Die Stimmung war angespannt: Die Demonstration war zwar absolut friedlich, aber die Leute waren wütend, verzweifelt - und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, es gibt einen großen Tatendrang. Die Frage ist nun, ob diese Empörung und Wut ausreicht, und ob sie bis zu den Mid-Terms im November trägt.
Was sind aus Ihrer Sicht die Folgen des Urteils?
Die Folgen sind dramatisch. Es gibt in den USA kein Recht auf Abtreibung mehr. 13 Bundesstaaten hatten bereits im Vorfeld sogenannte „Trigger Laws" verabschiedet, also Gesetze, die schon vorbereitet in der Schublade lagen und die direkt mit dem Urteilsspruch in Kraft getreten sind. Insgesamt wollen 26 der 50 Bundesstaaten das Abtreibungsrecht verschärfen. Auch auf Bundesebene haben diverse Republikaner, darunter sogar Mitch McConnell, der Minderheitenführer der Republikaner im Senat, angekündigt, dass sie nichts gegen ein nationales Abtreibungsverbot hätten, sobald sie die Mehrheit dafür haben. Es sieht düster aus.
Sie haben Entwicklungen wie diese in Ihrem 2021 erschienenen Buch „Amerikas Gotteskrieger: Wie die Religiöse Rechte Demokratie gefährdet" bereits vorhergesagt. Was ist vor dem Supreme-Court-Urteil passiert, dass es überhaupt so weit kommen konnte?
Dieses Urteil ist letztlich das Ergebnis eines jahrzehntelangen Planes der religiösen und politischen Rechten, die sich mittlerweile fast komplett überschneidet, Abtreibung zu verbieten. Die religiöse Rechte behauptet oft, dass der Präzedenzfall "Roe versus Wade" aus dem Jahr 1973, der Abtreibungen landesweit ermöglichte, der Auslöser dafür gewesen sei, dass sie sich zusammengeschlossen haben. Das ist Quatsch! Der eigentliche mobilisierende Funke, zumindest der weißen Evangelikalen, war ihr Widerstand gegen die Aufhebung der Segregation an Schulen. Und dass christlichen Schulen, die weiter diskriminierten, der Verlust der Steuerfreiheit drohte. Das Abtreibungsrecht hat Evangelikale damals dagegen kaum interessiert, Abtreibung galt ihnen eher als katholisches Thema. Erst in den 80er Jahren hat die religiöse Rechte in den USA dann begonnen, sich den Kampf gegen Abtreibung auf die Fahnen zu schreiben. Eine sehr gute Marketingstrategie: Denn man stellt sich als die „Party of Life", die Partei des Lebens, dar - der politische Gegner ist dann also die Partei des Todes. Das bringt einen rhetorisch in eine gute Position. Perverserweise sahen sich die Abtreibungsgegner auch als Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung, weil man hier für die Rechte des „ungeborenen Lebens" kämpfen würde.
Was ja umso absurder ist, wenn man bedenkt, dass Rassismus einer der Gründe war, warum sich die religiöse Rechte überhaupt zusammengeschlossen hat.
Absolut! Am Samstag gab es auch einen Auftritt einer republikanischen Kongressabgeordneten, Mary Miller, die das sonst Ungesagte auf einer Wahlkampfveranstaltung mit Donald Trump auch laut ausgesprochen hat: Sie feierte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs als „großen Sieg für weißes Leben".
Laut ihrem Sprecher ein Versprecher. Dahinter scheint aber durch: Statt einer pluralistischen multiethnischen Gesellschaft will die religiöse Rechte, dass weiße Frauen mehr weiße Babys bekommen.
Ist das Ende des Rechts auf Abtreibung erst der Anfang? Was steht noch auf der christlich-nationalistischen Wunschliste?
Dafür muss man sich nur anhören, was einige republikanische Politiker, aber auch die Richter am Obersten Gerichtshof sagen. Bereits im Urteilsentwurf stand, dass alle Urteile, die der Supreme Court gefällt hat, potenziell hinfällig sind. Das könnte das Recht auf Verhütung betreffen, die gleichgeschlechtliche Ehe und die Entkriminalisierung von Homosexualität. Letztlich könnte auch der Präzendenzfall, der die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen erlaubt, auf dem Prüfstein stehen. Das Abtreibungsrecht ist also erst der Anfang. Was wir sehen, ist ein organisierter Rollback zurück in die Fünfzigerjahre.
Was lässt sich tun, um zu verhindern, dass all das Wirklichkeit wird?
Die Biden-Regierung könnte und müsste mehrere Dinge tun, um weitere katastrophale Entscheidungen für Menschen- und Bürgerrechte zu verhindern. Das ist zum einen die Erweiterung des Obersten Gerichtshof: Die Verfassung schreibt nicht fest, wie viele Richterinnen und Richter es geben kann. Die andere Möglichkeit wäre, ein Gesetz zu verabschieden, welches das Recht auf Abtreibung auf Bundesebene verankert. Denn so ein Bundesgesetz würde über den Gesetzen der einzelnen Bundesstaaten stehen. Die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung hat gerade das Recht auf körperliche Autonomie verloren. Es ist also höchste Zeit zu handeln.
„Amerikas Gotteskrieger - Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet" von Annika Brockschmidt ist bei Rowohlt erschienen (416 Seiten, 16 Euro).